Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

und zu schätzen, was der Meister gemacht hat. Trotz
aller meiner Bestrebungen bin ich freylich kein Künstler
geworden, aber, indem ich mich in allen Theilen der
Kunst versuchte, habe ich gelernt von jedem Strich
Rechenschaft zu geben, und das Verdienstliche vom
Mangelhaften zu unterscheiden. Dieses ist kein kleiner
Gewinn, so wie denn selten eine falsche Tendenz ohne
Gewinn bleibt. So z. B. waren die Kreuzzüge zur
Befreyung des heiligen Grabes offenbar eine falsche
Tendenz; aber sie hat das Gute gehabt, daß dadurch
die Türken immerfort geschwächt und gehindert worden
sind sich zu Herren von Europa zu machen."

Wir sprachen noch über verschiedene Dinge, und
Goethe erzählte sodann von einem Werk über Peter
den Großen
von Segür, das ihm interessant sey
und ihm manchen Aufschluß gegeben. "Die Lage von
Petersburg, sagte er, ist ganz unverzeihlich, um so mehr
wenn man bedenkt, daß gleich in der Nähe der Boden
sich hebt, und daß der Kaiser die eigentlich Stadt ganz
von aller Wassersnoth hätte frey halten können, wenn
er mit ihr ein wenig höher hinaufgegangen wäre, und
bloß den Hafen in der Niederung gelassen hätte. Ein
alter Schiffer machte ihm auch Gegenvorstellungen, und
sagte ihm voraus, daß die Population alle siebenzig
Jahre ersaufen würde. Es stand auch ein alter Baum
da, mit verschiedenen Spuren eines hohen Wasserstan¬
des. Aber es war alles umsonst, der Kaiser blieb bey

und zu ſchaͤtzen, was der Meiſter gemacht hat. Trotz
aller meiner Beſtrebungen bin ich freylich kein Kuͤnſtler
geworden, aber, indem ich mich in allen Theilen der
Kunſt verſuchte, habe ich gelernt von jedem Strich
Rechenſchaft zu geben, und das Verdienſtliche vom
Mangelhaften zu unterſcheiden. Dieſes iſt kein kleiner
Gewinn, ſo wie denn ſelten eine falſche Tendenz ohne
Gewinn bleibt. So z. B. waren die Kreuzzuͤge zur
Befreyung des heiligen Grabes offenbar eine falſche
Tendenz; aber ſie hat das Gute gehabt, daß dadurch
die Tuͤrken immerfort geſchwaͤcht und gehindert worden
ſind ſich zu Herren von Europa zu machen.“

Wir ſprachen noch uͤber verſchiedene Dinge, und
Goethe erzaͤhlte ſodann von einem Werk uͤber Peter
den Großen
von Seguͤr, das ihm intereſſant ſey
und ihm manchen Aufſchluß gegeben. „Die Lage von
Petersburg, ſagte er, iſt ganz unverzeihlich, um ſo mehr
wenn man bedenkt, daß gleich in der Naͤhe der Boden
ſich hebt, und daß der Kaiſer die eigentlich Stadt ganz
von aller Waſſersnoth haͤtte frey halten koͤnnen, wenn
er mit ihr ein wenig hoͤher hinaufgegangen waͤre, und
bloß den Hafen in der Niederung gelaſſen haͤtte. Ein
alter Schiffer machte ihm auch Gegenvorſtellungen, und
ſagte ihm voraus, daß die Population alle ſiebenzig
Jahre erſaufen wuͤrde. Es ſtand auch ein alter Baum
da, mit verſchiedenen Spuren eines hohen Waſſerſtan¬
des. Aber es war alles umſonſt, der Kaiſer blieb bey

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0150" n="140"/>
und zu &#x017F;cha&#x0364;tzen, was der Mei&#x017F;ter gemacht hat. Trotz<lb/>
aller meiner Be&#x017F;trebungen bin ich freylich kein Ku&#x0364;n&#x017F;tler<lb/>
geworden, aber, indem ich mich in allen Theilen der<lb/>
Kun&#x017F;t ver&#x017F;uchte, habe ich gelernt von jedem Strich<lb/>
Rechen&#x017F;chaft zu geben, und das Verdien&#x017F;tliche vom<lb/>
Mangelhaften zu unter&#x017F;cheiden. Die&#x017F;es i&#x017F;t kein kleiner<lb/>
Gewinn, &#x017F;o wie denn &#x017F;elten eine fal&#x017F;che Tendenz ohne<lb/>
Gewinn bleibt. So z. B. waren die Kreuzzu&#x0364;ge zur<lb/>
Befreyung des heiligen Grabes offenbar eine fal&#x017F;che<lb/>
Tendenz; aber &#x017F;ie hat das Gute gehabt, daß dadurch<lb/>
die Tu&#x0364;rken immerfort ge&#x017F;chwa&#x0364;cht und gehindert worden<lb/>
&#x017F;ind &#x017F;ich zu Herren von Europa zu machen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;prachen noch u&#x0364;ber ver&#x017F;chiedene Dinge, und<lb/>
Goethe erza&#x0364;hlte &#x017F;odann von einem Werk u&#x0364;ber <hi rendition="#g">Peter<lb/>
den Großen</hi> von <hi rendition="#g">Segu&#x0364;r</hi>, das ihm intere&#x017F;&#x017F;ant &#x017F;ey<lb/>
und ihm manchen Auf&#x017F;chluß gegeben. &#x201E;Die Lage von<lb/>
Petersburg, &#x017F;agte er, i&#x017F;t ganz unverzeihlich, um &#x017F;o mehr<lb/>
wenn man bedenkt, daß gleich in der Na&#x0364;he der Boden<lb/>
&#x017F;ich hebt, und daß der Kai&#x017F;er die eigentlich Stadt ganz<lb/>
von aller Wa&#x017F;&#x017F;ersnoth ha&#x0364;tte frey halten ko&#x0364;nnen, wenn<lb/>
er mit ihr ein wenig ho&#x0364;her hinaufgegangen wa&#x0364;re, und<lb/>
bloß den Hafen in der Niederung gela&#x017F;&#x017F;en ha&#x0364;tte. Ein<lb/>
alter Schiffer machte ihm auch Gegenvor&#x017F;tellungen, und<lb/>
&#x017F;agte ihm voraus, daß die Population alle &#x017F;iebenzig<lb/>
Jahre er&#x017F;aufen wu&#x0364;rde. Es &#x017F;tand auch ein alter Baum<lb/>
da, mit ver&#x017F;chiedenen Spuren eines hohen Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;tan¬<lb/>
des. Aber es war alles um&#x017F;on&#x017F;t, der Kai&#x017F;er blieb bey<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0150] und zu ſchaͤtzen, was der Meiſter gemacht hat. Trotz aller meiner Beſtrebungen bin ich freylich kein Kuͤnſtler geworden, aber, indem ich mich in allen Theilen der Kunſt verſuchte, habe ich gelernt von jedem Strich Rechenſchaft zu geben, und das Verdienſtliche vom Mangelhaften zu unterſcheiden. Dieſes iſt kein kleiner Gewinn, ſo wie denn ſelten eine falſche Tendenz ohne Gewinn bleibt. So z. B. waren die Kreuzzuͤge zur Befreyung des heiligen Grabes offenbar eine falſche Tendenz; aber ſie hat das Gute gehabt, daß dadurch die Tuͤrken immerfort geſchwaͤcht und gehindert worden ſind ſich zu Herren von Europa zu machen.“ Wir ſprachen noch uͤber verſchiedene Dinge, und Goethe erzaͤhlte ſodann von einem Werk uͤber Peter den Großen von Seguͤr, das ihm intereſſant ſey und ihm manchen Aufſchluß gegeben. „Die Lage von Petersburg, ſagte er, iſt ganz unverzeihlich, um ſo mehr wenn man bedenkt, daß gleich in der Naͤhe der Boden ſich hebt, und daß der Kaiſer die eigentlich Stadt ganz von aller Waſſersnoth haͤtte frey halten koͤnnen, wenn er mit ihr ein wenig hoͤher hinaufgegangen waͤre, und bloß den Hafen in der Niederung gelaſſen haͤtte. Ein alter Schiffer machte ihm auch Gegenvorſtellungen, und ſagte ihm voraus, daß die Population alle ſiebenzig Jahre erſaufen wuͤrde. Es ſtand auch ein alter Baum da, mit verſchiedenen Spuren eines hohen Waſſerſtan¬ des. Aber es war alles umſonſt, der Kaiſer blieb bey

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/150
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/150>, abgerufen am 18.12.2024.