Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

überlassen, es fehlen die lebendigen Meister, die sie in
die Geheimnisse der Kunst einführen. Zwar ist auch
von den Todten etwas zu lernen, allein dieses ist, wie
es sich zeigt, mehr ein Absehen von Einzelnheiten als
ein Eindringen in eines Meisters tiefere Art zu denken
und zu verfahren.

Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir setz¬
ten uns zu Tisch. Die Gespräche wechselten über hei¬
tere Gegenstände des Tages: Theater, Bälle und Hof,
flüchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder
auf ernstere Dinge gerathen und wir sahen uns in einem
Gespräch über Religionslehren in England tief befangen.

"Ihr müßtet wie ich, sagte Goethe, seit funfzig
Jahren die Kirchengeschichte studirt haben, um zu be¬
greifen, wie das alles zusammenhängt. Dagegen ist es
höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohame¬
daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der
Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Über¬
zeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als
was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst be¬
stimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes
Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines
Weiteren."

"Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre
Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches seyn
mag; aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch
etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt

uͤberlaſſen, es fehlen die lebendigen Meiſter, die ſie in
die Geheimniſſe der Kunſt einfuͤhren. Zwar iſt auch
von den Todten etwas zu lernen, allein dieſes iſt, wie
es ſich zeigt, mehr ein Abſehen von Einzelnheiten als
ein Eindringen in eines Meiſters tiefere Art zu denken
und zu verfahren.

Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir ſetz¬
ten uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten uͤber hei¬
tere Gegenſtaͤnde des Tages: Theater, Baͤlle und Hof,
fluͤchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder
auf ernſtere Dinge gerathen und wir ſahen uns in einem
Geſpraͤch uͤber Religionslehren in England tief befangen.

„Ihr muͤßtet wie ich, ſagte Goethe, ſeit funfzig
Jahren die Kirchengeſchichte ſtudirt haben, um zu be¬
greifen, wie das alles zuſammenhaͤngt. Dagegen iſt es
hoͤchſt merkwuͤrdig, mit welchen Lehren die Mohame¬
daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der
Religion befeſtigen ſie ihre Jugend zunaͤchſt in der Über¬
zeugung, daß dem Menſchen nichts begegnen koͤnne, als
was ihm von einer alles leitenden Gottheit laͤngſt be¬
ſtimmt worden; und ſomit ſind ſie denn fuͤr ihr ganzes
Leben ausgeruͤſtet und beruhigt und beduͤrfen kaum eines
Weiteren.“

„Ich will nicht unterſuchen, was an dieſer Lehre
Wahres oder Falſches, Nuͤtzliches oder Schaͤdliches ſeyn
mag; aber im Grunde liegt von dieſem Glauben doch
etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0369" n="349"/>
u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en, es fehlen die lebendigen Mei&#x017F;ter, die &#x017F;ie in<lb/>
die Geheimni&#x017F;&#x017F;e der Kun&#x017F;t einfu&#x0364;hren. Zwar i&#x017F;t auch<lb/>
von den Todten etwas zu lernen, allein die&#x017F;es i&#x017F;t, wie<lb/>
es &#x017F;ich zeigt, mehr ein Ab&#x017F;ehen von Einzelnheiten als<lb/>
ein Eindringen in eines Mei&#x017F;ters tiefere Art zu denken<lb/>
und zu verfahren.</p><lb/>
          <p>Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir &#x017F;etz¬<lb/>
ten uns zu Ti&#x017F;ch. Die Ge&#x017F;pra&#x0364;che wech&#x017F;elten u&#x0364;ber hei¬<lb/>
tere Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde des Tages: Theater, Ba&#x0364;lle und Hof,<lb/>
flu&#x0364;chtig hin und her. Bald aber waren wir wieder<lb/>
auf ern&#x017F;tere Dinge gerathen und wir &#x017F;ahen uns in einem<lb/>
Ge&#x017F;pra&#x0364;ch u&#x0364;ber Religionslehren in England tief befangen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ihr mu&#x0364;ßtet wie ich, &#x017F;agte Goethe, &#x017F;eit funfzig<lb/>
Jahren die Kirchenge&#x017F;chichte &#x017F;tudirt haben, um zu be¬<lb/>
greifen, wie das alles zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngt. Dagegen i&#x017F;t es<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;t merkwu&#x0364;rdig, mit welchen Lehren die Mohame¬<lb/>
daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der<lb/>
Religion befe&#x017F;tigen &#x017F;ie ihre Jugend zuna&#x0364;ch&#x017F;t in der Über¬<lb/>
zeugung, daß dem Men&#x017F;chen nichts begegnen ko&#x0364;nne, als<lb/>
was ihm von einer alles leitenden Gottheit la&#x0364;ng&#x017F;t be¬<lb/>
&#x017F;timmt worden; und &#x017F;omit &#x017F;ind &#x017F;ie denn fu&#x0364;r ihr ganzes<lb/>
Leben ausgeru&#x0364;&#x017F;tet und beruhigt und bedu&#x0364;rfen kaum eines<lb/>
Weiteren.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ich will nicht unter&#x017F;uchen, was an die&#x017F;er Lehre<lb/>
Wahres oder Fal&#x017F;ches, Nu&#x0364;tzliches oder Scha&#x0364;dliches &#x017F;eyn<lb/>
mag; aber im Grunde liegt von die&#x017F;em Glauben doch<lb/>
etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[349/0369] uͤberlaſſen, es fehlen die lebendigen Meiſter, die ſie in die Geheimniſſe der Kunſt einfuͤhren. Zwar iſt auch von den Todten etwas zu lernen, allein dieſes iſt, wie es ſich zeigt, mehr ein Abſehen von Einzelnheiten als ein Eindringen in eines Meiſters tiefere Art zu denken und zu verfahren. Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir ſetz¬ ten uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten uͤber hei¬ tere Gegenſtaͤnde des Tages: Theater, Baͤlle und Hof, fluͤchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernſtere Dinge gerathen und wir ſahen uns in einem Geſpraͤch uͤber Religionslehren in England tief befangen. „Ihr muͤßtet wie ich, ſagte Goethe, ſeit funfzig Jahren die Kirchengeſchichte ſtudirt haben, um zu be¬ greifen, wie das alles zuſammenhaͤngt. Dagegen iſt es hoͤchſt merkwuͤrdig, mit welchen Lehren die Mohame¬ daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befeſtigen ſie ihre Jugend zunaͤchſt in der Über¬ zeugung, daß dem Menſchen nichts begegnen koͤnne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit laͤngſt be¬ ſtimmt worden; und ſomit ſind ſie denn fuͤr ihr ganzes Leben ausgeruͤſtet und beruhigt und beduͤrfen kaum eines Weiteren.“ „Ich will nicht unterſuchen, was an dieſer Lehre Wahres oder Falſches, Nuͤtzliches oder Schaͤdliches ſeyn mag; aber im Grunde liegt von dieſem Glauben doch etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/369
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/369>, abgerufen am 22.11.2024.