Sodann hatte ich, vorzüglich bey dieser letzten No¬ velle, noch das Detail zu bewundern, womit besonders das Landschaftliche dargestellt war.
"Ich habe, sagte Goethe, niemals die Natur poe¬ tischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein frühe¬ res Landschaftszeichnen und dann mein späteres Natur¬ forschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Na¬ tur bis in ihre kleinsten Details nach und nach aus¬ wendig gelernt, dergestalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieses Naturbetrachten nicht. Was in seinem Tell von Schwei¬ zerlocalität ist, habe ich ihm alles erzählt; aber er war ein so bewundernswürdiger Geist, daß er selbst nach solchen Erzählungen etwas machen konnte, das Realität hatte."
Das Gespräch lenkte sich nun ganz auf Schiller, und Goethe fuhr folgendermaßen fort:
"Schillers eigentliche Productivität lag im Idealen, und es läßt sich sagen, daß er so wenig in der deut¬ schen als einer andern Literatur seines Gleichen hat. Von Lord Byron hat er noch das Meiste; doch dieser ist ihm an Welt überlegen. Ich hätte gerne gesehen, daß Schiller den Lord Byron erlebt hätte, und da hätt' es mich wundern sollen, was er zu einem so verwandten
I. 20
Sodann hatte ich, vorzuͤglich bey dieſer letzten No¬ velle, noch das Detail zu bewundern, womit beſonders das Landſchaftliche dargeſtellt war.
„Ich habe, ſagte Goethe, niemals die Natur poe¬ tiſcher Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein fruͤhe¬ res Landſchaftszeichnen und dann mein ſpaͤteres Natur¬ forſchen mich zu einem beſtaͤndigen genauen Anſehen der natuͤrlichen Gegenſtaͤnde trieb, ſo habe ich die Na¬ tur bis in ihre kleinſten Details nach und nach aus¬ wendig gelernt, dergeſtalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote ſteht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieſes Naturbetrachten nicht. Was in ſeinem Tell von Schwei¬ zerlocalitaͤt iſt, habe ich ihm alles erzaͤhlt; aber er war ein ſo bewundernswuͤrdiger Geiſt, daß er ſelbſt nach ſolchen Erzaͤhlungen etwas machen konnte, das Realitaͤt hatte.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich nun ganz auf Schiller, und Goethe fuhr folgendermaßen fort:
„Schillers eigentliche Productivitaͤt lag im Idealen, und es laͤßt ſich ſagen, daß er ſo wenig in der deut¬ ſchen als einer andern Literatur ſeines Gleichen hat. Von Lord Byron hat er noch das Meiſte; doch dieſer iſt ihm an Welt uͤberlegen. Ich haͤtte gerne geſehen, daß Schiller den Lord Byron erlebt haͤtte, und da haͤtt' es mich wundern ſollen, was er zu einem ſo verwandten
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Sodann hatte ich, vorzuͤglich bey dieſer letzten No¬
velle, noch das Detail zu bewundern, womit beſonders
das Landſchaftliche dargeſtellt war.
„Ich habe, ſagte Goethe, niemals die Natur poe¬
tiſcher Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein fruͤhe¬
res Landſchaftszeichnen und dann mein ſpaͤteres Natur¬
forſchen mich zu einem beſtaͤndigen genauen Anſehen
der natuͤrlichen Gegenſtaͤnde trieb, ſo habe ich die Na¬
tur bis in ihre kleinſten Details nach und nach aus¬
wendig gelernt, dergeſtalt, daß, wenn ich als Poet etwas
brauche, es mir zu Gebote ſteht und ich nicht leicht
gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieſes
Naturbetrachten nicht. Was in ſeinem Tell von Schwei¬
zerlocalitaͤt iſt, habe ich ihm alles erzaͤhlt; aber er war
ein ſo bewundernswuͤrdiger Geiſt, daß er ſelbſt nach
ſolchen Erzaͤhlungen etwas machen konnte, das Realitaͤt
hatte.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich nun ganz auf Schiller,
und Goethe fuhr folgendermaßen fort:
„Schillers eigentliche Productivitaͤt lag im Idealen,
und es laͤßt ſich ſagen, daß er ſo wenig in der deut¬
ſchen als einer andern Literatur ſeines Gleichen hat.
Von Lord Byron hat er noch das Meiſte; doch dieſer
iſt ihm an Welt uͤberlegen. Ich haͤtte gerne geſehen, daß
Schiller den Lord Byron erlebt haͤtte, und da haͤtt' es
mich wundern ſollen, was er zu einem ſo verwandten
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/325>, abgerufen am 25.11.2024.
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