gezeichnet sey, daß man die häusliche Umgebung und das ganze Leben der handelnden Personen darin zu er¬ blicken glaube. Das Dargestellte erscheint so wahr, sagte ich, als ob Sie nach einem wirklich Erlebten gearbeitet hätten.
"Es ist mir lieb, antwortete Goethe, wenn es Ihnen so erscheint. Es giebt indeß wenige Menschen, die eine Phantasie für die Wahrheit des Realen besitzen, viel¬ mehr ergehen sie sich gerne in seltsamen Ländern und Zuständen, wovon sie gar keine Begriffe haben und die ihre Phantasie ihnen wunderlich genug ausbilden mag."
"Und dann giebt es wieder andere, die durchaus am Realen kleben, und, weil es ihnen an aller Poesie fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So verlangten z. B. Einige bey dieser Elegie, daß ich dem Alexis hätte einen Bedienten beygeben sollen, um sein Bündelchen zu tragen; die Menschen bedenken aber nicht, daß alles Poetische und Idyllische jenes Zustandes dadurch wäre gestört worden."
Von Alexis und Dora lenkte sich sich das Gespräch aus den Wilhelm Meister.
"Es giebt wunderliche Critiker, fuhr Goethe fort. An diesem Roman tadelten sie, daß der Held sich zu viel in schlechter Gesellschaft befinde. Dadurch aber, daß ich die sogenannte schlechte Gesellschaft als Gefäß betr achtete, um das, was ich vonder guten zu sagen hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetischen
gezeichnet ſey, daß man die haͤusliche Umgebung und das ganze Leben der handelnden Perſonen darin zu er¬ blicken glaube. Das Dargeſtellte erſcheint ſo wahr, ſagte ich, als ob Sie nach einem wirklich Erlebten gearbeitet haͤtten.
„Es iſt mir lieb, antwortete Goethe, wenn es Ihnen ſo erſcheint. Es giebt indeß wenige Menſchen, die eine Phantaſie fuͤr die Wahrheit des Realen beſitzen, viel¬ mehr ergehen ſie ſich gerne in ſeltſamen Laͤndern und Zuſtaͤnden, wovon ſie gar keine Begriffe haben und die ihre Phantaſie ihnen wunderlich genug ausbilden mag.“
„Und dann giebt es wieder andere, die durchaus am Realen kleben, und, weil es ihnen an aller Poeſie fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So verlangten z. B. Einige bey dieſer Elegie, daß ich dem Alexis haͤtte einen Bedienten beygeben ſollen, um ſein Buͤndelchen zu tragen; die Menſchen bedenken aber nicht, daß alles Poetiſche und Idylliſche jenes Zuſtandes dadurch waͤre geſtoͤrt worden.“
Von Alexis und Dora lenkte ſich ſich das Geſpraͤch aus den Wilhelm Meiſter.
„Es giebt wunderliche Critiker, fuhr Goethe fort. An dieſem Roman tadelten ſie, daß der Held ſich zu viel in ſchlechter Geſellſchaft befinde. Dadurch aber, daß ich die ſogenannte ſchlechte Geſellſchaft als Gefaͤß betr achtete, um das, was ich vonder guten zu ſagen hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetiſchen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0250"n="230"/>
gezeichnet ſey, daß man die haͤusliche Umgebung und<lb/>
das ganze Leben der handelnden Perſonen darin zu er¬<lb/>
blicken glaube. Das Dargeſtellte erſcheint ſo wahr,<lb/>ſagte ich, als ob Sie nach einem wirklich Erlebten<lb/>
gearbeitet haͤtten.</p><lb/><p>„Es iſt mir lieb, antwortete Goethe, wenn es Ihnen<lb/>ſo erſcheint. Es giebt indeß wenige Menſchen, die eine<lb/>
Phantaſie fuͤr die Wahrheit des Realen beſitzen, viel¬<lb/>
mehr ergehen ſie ſich gerne in ſeltſamen Laͤndern und<lb/>
Zuſtaͤnden, wovon ſie gar keine Begriffe haben und die<lb/>
ihre Phantaſie ihnen wunderlich genug ausbilden mag.“</p><lb/><p>„Und dann giebt es wieder andere, die durchaus<lb/>
am Realen kleben, und, weil es ihnen an aller Poeſie<lb/>
fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So<lb/>
verlangten z. B. Einige bey dieſer Elegie, daß ich dem<lb/>
Alexis haͤtte einen Bedienten beygeben ſollen, um ſein<lb/>
Buͤndelchen zu tragen; die Menſchen bedenken aber nicht,<lb/>
daß alles Poetiſche und Idylliſche jenes Zuſtandes dadurch<lb/>
waͤre geſtoͤrt worden.“</p><lb/><p>Von Alexis und Dora lenkte ſich ſich das Geſpraͤch<lb/>
aus den Wilhelm Meiſter.</p><lb/><p>„Es giebt wunderliche Critiker, fuhr Goethe fort.<lb/>
An dieſem Roman tadelten ſie, daß der Held ſich zu<lb/>
viel in ſchlechter Geſellſchaft befinde. Dadurch aber,<lb/>
daß ich die ſogenannte ſchlechte Geſellſchaft als Gefaͤß<lb/>
betr achtete, um das, was ich vonder guten zu ſagen<lb/>
hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetiſchen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[230/0250]
gezeichnet ſey, daß man die haͤusliche Umgebung und
das ganze Leben der handelnden Perſonen darin zu er¬
blicken glaube. Das Dargeſtellte erſcheint ſo wahr,
ſagte ich, als ob Sie nach einem wirklich Erlebten
gearbeitet haͤtten.
„Es iſt mir lieb, antwortete Goethe, wenn es Ihnen
ſo erſcheint. Es giebt indeß wenige Menſchen, die eine
Phantaſie fuͤr die Wahrheit des Realen beſitzen, viel¬
mehr ergehen ſie ſich gerne in ſeltſamen Laͤndern und
Zuſtaͤnden, wovon ſie gar keine Begriffe haben und die
ihre Phantaſie ihnen wunderlich genug ausbilden mag.“
„Und dann giebt es wieder andere, die durchaus
am Realen kleben, und, weil es ihnen an aller Poeſie
fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So
verlangten z. B. Einige bey dieſer Elegie, daß ich dem
Alexis haͤtte einen Bedienten beygeben ſollen, um ſein
Buͤndelchen zu tragen; die Menſchen bedenken aber nicht,
daß alles Poetiſche und Idylliſche jenes Zuſtandes dadurch
waͤre geſtoͤrt worden.“
Von Alexis und Dora lenkte ſich ſich das Geſpraͤch
aus den Wilhelm Meiſter.
„Es giebt wunderliche Critiker, fuhr Goethe fort.
An dieſem Roman tadelten ſie, daß der Held ſich zu
viel in ſchlechter Geſellſchaft befinde. Dadurch aber,
daß ich die ſogenannte ſchlechte Geſellſchaft als Gefaͤß
betr achtete, um das, was ich vonder guten zu ſagen
hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetiſchen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/250>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.