noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen Antheil lesen. Besonders lieb ist es mir in der latei¬ nischen Übersetzung; es kommt mir da vornehmer vor, als wäre, es der Form nach, zu seinem Ursprunge zurück¬ gekehrt."
Auch vom Wilhelm Meister war wiederholt die Rede. "Schiller, sagte er, tadelte die Einflechtung des Tragi¬ schen, als welches nicht in den Roman gehöre. Er hatte jedoch Unrecht, wie wir alle wissen. In seinen Briefen an mich sind über den Wilhelm Meister die bedeutendsten Ansichten und Äußerungen. Es gehört dieses Werk übrigens zu den incalculabelsten Productio¬ nen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunct, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Le¬ ben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet, indem er sagt: Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen und ein Königreich fand. Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Ver¬ wirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange."
noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen Antheil leſen. Beſonders lieb iſt es mir in der latei¬ niſchen Überſetzung; es kommt mir da vornehmer vor, als waͤre, es der Form nach, zu ſeinem Urſprunge zuruͤck¬ gekehrt.“
Auch vom Wilhelm Meiſter war wiederholt die Rede. „Schiller, ſagte er, tadelte die Einflechtung des Tragi¬ ſchen, als welches nicht in den Roman gehoͤre. Er hatte jedoch Unrecht, wie wir alle wiſſen. In ſeinen Briefen an mich ſind uͤber den Wilhelm Meiſter die bedeutendſten Anſichten und Äußerungen. Es gehoͤrt dieſes Werk uͤbrigens zu den incalculabelſten Productio¬ nen, wozu mir faſt ſelbſt der Schluͤſſel fehlt. Man ſucht einen Mittelpunct, und das iſt ſchwer und nicht einmal gut. Ich ſollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Le¬ ben, das unſern Augen voruͤbergeht, waͤre auch an ſich etwas ohne ausgeſprochene Tendenz, die doch bloß fuͤr den Begriff iſt. Will man aber dergleichen durchaus, ſo halte man ſich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unſern Helden richtet, indem er ſagt: Du kommſt mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, ſeines Vaters Eſelinnen zu ſuchen und ein Koͤnigreich fand. Hieran halte man ſich. Denn im Grunde ſcheint doch das Ganze nichts anderes ſagen zu wollen, als daß der Menſch, trotz aller Dummheiten und Ver¬ wirrungen, von einer hoͤheren Hand geleitet, doch zum gluͤcklichen Ziele gelange.“
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noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen
Antheil leſen. Beſonders lieb iſt es mir in der latei¬
niſchen Überſetzung; es kommt mir da vornehmer vor,
als waͤre, es der Form nach, zu ſeinem Urſprunge zuruͤck¬
gekehrt.“
Auch vom Wilhelm Meiſter war wiederholt die Rede.
„Schiller, ſagte er, tadelte die Einflechtung des Tragi¬
ſchen, als welches nicht in den Roman gehoͤre. Er
hatte jedoch Unrecht, wie wir alle wiſſen. In ſeinen
Briefen an mich ſind uͤber den Wilhelm Meiſter die
bedeutendſten Anſichten und Äußerungen. Es gehoͤrt
dieſes Werk uͤbrigens zu den incalculabelſten Productio¬
nen, wozu mir faſt ſelbſt der Schluͤſſel fehlt. Man ſucht
einen Mittelpunct, und das iſt ſchwer und nicht einmal
gut. Ich ſollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Le¬
ben, das unſern Augen voruͤbergeht, waͤre auch an ſich
etwas ohne ausgeſprochene Tendenz, die doch bloß fuͤr
den Begriff iſt. Will man aber dergleichen durchaus,
ſo halte man ſich an die Worte Friedrichs, die er am
Ende an unſern Helden richtet, indem er ſagt: Du
kommſt mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging,
ſeines Vaters Eſelinnen zu ſuchen und ein Koͤnigreich
fand. Hieran halte man ſich. Denn im Grunde ſcheint
doch das Ganze nichts anderes ſagen zu wollen, als
daß der Menſch, trotz aller Dummheiten und Ver¬
wirrungen, von einer hoͤheren Hand geleitet, doch zum
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/214>, abgerufen am 24.11.2024.
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