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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864.

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"Hast Du mein gedacht?"

"Nur, nur an Dich!"

"Und hofftest Du, mich schon so bald zu sehen?"

"Ach Stund' für Stunde dacht' ich: ,er muß kom-
men!' Wenn ich des Morgens in den Garten trat und
schaute hin nach Osten, Deiner Heimat, und ein Vöglein
flog von drüben, von der rechten Seite auf mich zu, --
fühlt' ich ein Zucken in dem rechten Augenlid; wenn ich
in meiner Kiste räumte und allda das Kränzlein fand,
das Dir so herrlich ließ, und das ich drum zum Ange-
denken aufhob, -- Melitta sagt, solch' aufbewahrter Kranz
erhalte treue Liebe 58), -- dann klatscht' ich in die Hände,
dachte mir: ,heut' muß er kommen', lief dem Nile zu und
winkte jedem Nachen mit dem Tuch', -- denn jedes Fahr-
zeug, dacht' ich, trüge Dich zu mir heran. Und wenn Du
doch nicht kamst, so ging ich traurig in das Haus zurück
und sang ein Lied und schaute in das Feuer des Heerdes,
das im Weibersaale brennt, bis mich Großmutter aus
dem Traume rief und sagte: ,Höre, Mädchen, -- wer
bei Tage träumt, ist in Gefahr, des Nachts schlaflos zu
liegen und mit trübem Sinn, mit müdem Hirn und mit
erschlafften Gliedern des Morgens von dem Lager aufzu-
stehen. Der Tag ward uns gegeben, um zu wachen, um
unsre Augen offen zu erhalten und zu streben, daß keine Stunde
ungenützt verrinne. Vergangne Zeit gehört den Todten
an, die Narrheit hoffet von der Zukunft Heil, -- der
Weise hält sich an die Gegenwart, die ewig junge, und
nimmt diese wahr, um alle Gaben, die uns Zeus ver-
liehen, die uns Apollon, Pallas, Kypris schenkte, durch
Arbeit so zu pflegen, daß sie nach und nach sich steigern
und ergänzen und veredeln, und unser Sinnen, Handeln,
Fühlen, Reden zuletzt wohllautend werde, wie der süße

„Haſt Du mein gedacht?“

„Nur, nur an Dich!“

„Und hoffteſt Du, mich ſchon ſo bald zu ſehen?“

„Ach Stund’ für Stunde dacht’ ich: ‚er muß kom-
men!‘ Wenn ich des Morgens in den Garten trat und
ſchaute hin nach Oſten, Deiner Heimat, und ein Vöglein
flog von drüben, von der rechten Seite auf mich zu, —
fühlt’ ich ein Zucken in dem rechten Augenlid; wenn ich
in meiner Kiſte räumte und allda das Kränzlein fand,
das Dir ſo herrlich ließ, und das ich drum zum Ange-
denken aufhob, — Melitta ſagt, ſolch’ aufbewahrter Kranz
erhalte treue Liebe 58), — dann klatſcht’ ich in die Hände,
dachte mir: ‚heut’ muß er kommen‘, lief dem Nile zu und
winkte jedem Nachen mit dem Tuch’, — denn jedes Fahr-
zeug, dacht’ ich, trüge Dich zu mir heran. Und wenn Du
doch nicht kamſt, ſo ging ich traurig in das Haus zurück
und ſang ein Lied und ſchaute in das Feuer des Heerdes,
das im Weiberſaale brennt, bis mich Großmutter aus
dem Traume rief und ſagte: ‚Höre, Mädchen, — wer
bei Tage träumt, iſt in Gefahr, des Nachts ſchlaflos zu
liegen und mit trübem Sinn, mit müdem Hirn und mit
erſchlafften Gliedern des Morgens von dem Lager aufzu-
ſtehen. Der Tag ward uns gegeben, um zu wachen, um
unſre Augen offen zu erhalten und zu ſtreben, daß keine Stunde
ungenützt verrinne. Vergangne Zeit gehört den Todten
an, die Narrheit hoffet von der Zukunft Heil, — der
Weiſe hält ſich an die Gegenwart, die ewig junge, und
nimmt dieſe wahr, um alle Gaben, die uns Zeus ver-
liehen, die uns Apollon, Pallas, Kypris ſchenkte, durch
Arbeit ſo zu pflegen, daß ſie nach und nach ſich ſteigern
und ergänzen und veredeln, und unſer Sinnen, Handeln,
Fühlen, Reden zuletzt wohllautend werde, wie der ſüße

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[92/0102] „Haſt Du mein gedacht?“ „Nur, nur an Dich!“ „Und hoffteſt Du, mich ſchon ſo bald zu ſehen?“ „Ach Stund’ für Stunde dacht’ ich: ‚er muß kom- men!‘ Wenn ich des Morgens in den Garten trat und ſchaute hin nach Oſten, Deiner Heimat, und ein Vöglein flog von drüben, von der rechten Seite auf mich zu, — fühlt’ ich ein Zucken in dem rechten Augenlid; wenn ich in meiner Kiſte räumte und allda das Kränzlein fand, das Dir ſo herrlich ließ, und das ich drum zum Ange- denken aufhob, — Melitta ſagt, ſolch’ aufbewahrter Kranz erhalte treue Liebe 58), — dann klatſcht’ ich in die Hände, dachte mir: ‚heut’ muß er kommen‘, lief dem Nile zu und winkte jedem Nachen mit dem Tuch’, — denn jedes Fahr- zeug, dacht’ ich, trüge Dich zu mir heran. Und wenn Du doch nicht kamſt, ſo ging ich traurig in das Haus zurück und ſang ein Lied und ſchaute in das Feuer des Heerdes, das im Weiberſaale brennt, bis mich Großmutter aus dem Traume rief und ſagte: ‚Höre, Mädchen, — wer bei Tage träumt, iſt in Gefahr, des Nachts ſchlaflos zu liegen und mit trübem Sinn, mit müdem Hirn und mit erſchlafften Gliedern des Morgens von dem Lager aufzu- ſtehen. Der Tag ward uns gegeben, um zu wachen, um unſre Augen offen zu erhalten und zu ſtreben, daß keine Stunde ungenützt verrinne. Vergangne Zeit gehört den Todten an, die Narrheit hoffet von der Zukunft Heil, — der Weiſe hält ſich an die Gegenwart, die ewig junge, und nimmt dieſe wahr, um alle Gaben, die uns Zeus ver- liehen, die uns Apollon, Pallas, Kypris ſchenkte, durch Arbeit ſo zu pflegen, daß ſie nach und nach ſich ſteigern und ergänzen und veredeln, und unſer Sinnen, Handeln, Fühlen, Reden zuletzt wohllautend werde, wie der ſüße

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/102>, abgerufen am 23.11.2024.