setzte sich, statt ihr Lager aufzusuchen, an das offne Fen- ster, welches sich den hängenden Gärten entgegen öffnete. Thränenden Blickes schaute sie zu dem Hause hinüber, in welchem jetzt ihre Freundin, ihre Schwester, einsam, ver- lassen, verbannt, einem schmachvollen Tode entgegen sah. Plötzlich schien ein kräftiger Wille ihr von Thränen er- mattetes Auge von Neuem zu beleben, und statt in die grenzenlose Weite, heftete sich ihr Blick unverwandt auf einen schwarzen Punkt, welcher vom Hause der Aegypterin aus, immer größer und erkennbarer werdend, in grader Linie auf sie zuflog und sich endlich auf eine Cypresse dicht vor ihrem Fenster niederließ.
Da schwand mit einem Male der Gram von ihrem lieblichen Antlitze; hochaufathmend klatschte sie in die Hände und rief aus: "O, sieh da, der Vogel Homai120)! Der Glücksvogel! Nun wird Alles gut werden!"
Derselbe Paradiesvogel, dessen Anblick dem Herzen der Nitetis so wunderbaren Trost gebracht hatte, schenkte auch Atossa neue Zuversicht.
Prüfend, ob sie von Niemand gesehn werde, schaute sie in den Garten. Als sie sich überzeugt hatte, daß Keiner, außer einem alten Gärtner, in demselben ver- weile, schwang sie sich, behend wie ein Reh, aus dem Fenster hinaus, brach einige Rosenblüten und Cypressen- zweige und näherte sich mit denselben dem Greise, welcher ihrem Treiben kopfschüttelnd zusah.
Schmeichlerisch liebkoste sie die Wangen des Alten, legte ihre Blumen in seine gebräunte Hand und fragte: "Hast Du mich lieb, Sabaces?"
"O Herrin!" lautete die einzige Antwort des Grei- ses, der den Saum des Gewandes der Königstochter in- brünstig an seine Lippen drückte.
ſetzte ſich, ſtatt ihr Lager aufzuſuchen, an das offne Fen- ſter, welches ſich den hängenden Gärten entgegen öffnete. Thränenden Blickes ſchaute ſie zu dem Hauſe hinüber, in welchem jetzt ihre Freundin, ihre Schweſter, einſam, ver- laſſen, verbannt, einem ſchmachvollen Tode entgegen ſah. Plötzlich ſchien ein kräftiger Wille ihr von Thränen er- mattetes Auge von Neuem zu beleben, und ſtatt in die grenzenloſe Weite, heftete ſich ihr Blick unverwandt auf einen ſchwarzen Punkt, welcher vom Hauſe der Aegypterin aus, immer größer und erkennbarer werdend, in grader Linie auf ſie zuflog und ſich endlich auf eine Cypreſſe dicht vor ihrem Fenſter niederließ.
Da ſchwand mit einem Male der Gram von ihrem lieblichen Antlitze; hochaufathmend klatſchte ſie in die Hände und rief aus: „O, ſieh da, der Vogel Homaï120)! Der Glücksvogel! Nun wird Alles gut werden!“
Derſelbe Paradiesvogel, deſſen Anblick dem Herzen der Nitetis ſo wunderbaren Troſt gebracht hatte, ſchenkte auch Atoſſa neue Zuverſicht.
Prüfend, ob ſie von Niemand geſehn werde, ſchaute ſie in den Garten. Als ſie ſich überzeugt hatte, daß Keiner, außer einem alten Gärtner, in demſelben ver- weile, ſchwang ſie ſich, behend wie ein Reh, aus dem Fenſter hinaus, brach einige Roſenblüten und Cypreſſen- zweige und näherte ſich mit denſelben dem Greiſe, welcher ihrem Treiben kopfſchüttelnd zuſah.
Schmeichleriſch liebkoſte ſie die Wangen des Alten, legte ihre Blumen in ſeine gebräunte Hand und fragte: „Haſt Du mich lieb, Sabaces?“
„O Herrin!“ lautete die einzige Antwort des Grei- ſes, der den Saum des Gewandes der Königstochter in- brünſtig an ſeine Lippen drückte.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0232"n="230"/>ſetzte ſich, ſtatt ihr Lager aufzuſuchen, an das offne Fen-<lb/>ſter, welches ſich den hängenden Gärten entgegen öffnete.<lb/>
Thränenden Blickes ſchaute ſie zu dem Hauſe hinüber, in<lb/>
welchem jetzt ihre Freundin, ihre Schweſter, einſam, ver-<lb/>
laſſen, verbannt, einem ſchmachvollen Tode entgegen ſah.<lb/>
Plötzlich ſchien ein kräftiger Wille ihr von Thränen er-<lb/>
mattetes Auge von Neuem zu beleben, und ſtatt in die<lb/>
grenzenloſe Weite, heftete ſich ihr Blick unverwandt auf<lb/>
einen ſchwarzen Punkt, welcher vom Hauſe der Aegypterin<lb/>
aus, immer größer und erkennbarer werdend, in grader<lb/>
Linie auf ſie zuflog und ſich endlich auf eine Cypreſſe<lb/>
dicht vor ihrem Fenſter niederließ.</p><lb/><p>Da ſchwand mit einem Male der Gram von ihrem<lb/>
lieblichen Antlitze; hochaufathmend klatſchte ſie in die Hände<lb/>
und rief aus: „O, ſieh da, der Vogel Homa<hirendition="#aq">ï</hi><hirendition="#sup">120</hi>)! Der<lb/>
Glücksvogel! Nun wird Alles gut werden!“</p><lb/><p>Derſelbe Paradiesvogel, deſſen Anblick dem Herzen<lb/>
der Nitetis ſo wunderbaren Troſt gebracht hatte, ſchenkte<lb/>
auch Atoſſa neue Zuverſicht.</p><lb/><p>Prüfend, ob ſie von Niemand geſehn werde, ſchaute<lb/>ſie in den Garten. Als ſie ſich überzeugt hatte, daß<lb/>
Keiner, außer einem alten Gärtner, in demſelben ver-<lb/>
weile, ſchwang ſie ſich, behend wie ein Reh, aus dem<lb/>
Fenſter hinaus, brach einige Roſenblüten und Cypreſſen-<lb/>
zweige und näherte ſich mit denſelben dem Greiſe, welcher<lb/>
ihrem Treiben kopfſchüttelnd zuſah.</p><lb/><p>Schmeichleriſch liebkoſte ſie die Wangen des Alten,<lb/>
legte ihre Blumen in ſeine gebräunte Hand und fragte:<lb/>„Haſt Du mich lieb, Sabaces?“</p><lb/><p>„O Herrin!“ lautete die einzige Antwort des Grei-<lb/>ſes, der den Saum des Gewandes der Königstochter in-<lb/>
brünſtig an ſeine Lippen drückte.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[230/0232]
ſetzte ſich, ſtatt ihr Lager aufzuſuchen, an das offne Fen-
ſter, welches ſich den hängenden Gärten entgegen öffnete.
Thränenden Blickes ſchaute ſie zu dem Hauſe hinüber, in
welchem jetzt ihre Freundin, ihre Schweſter, einſam, ver-
laſſen, verbannt, einem ſchmachvollen Tode entgegen ſah.
Plötzlich ſchien ein kräftiger Wille ihr von Thränen er-
mattetes Auge von Neuem zu beleben, und ſtatt in die
grenzenloſe Weite, heftete ſich ihr Blick unverwandt auf
einen ſchwarzen Punkt, welcher vom Hauſe der Aegypterin
aus, immer größer und erkennbarer werdend, in grader
Linie auf ſie zuflog und ſich endlich auf eine Cypreſſe
dicht vor ihrem Fenſter niederließ.
Da ſchwand mit einem Male der Gram von ihrem
lieblichen Antlitze; hochaufathmend klatſchte ſie in die Hände
und rief aus: „O, ſieh da, der Vogel Homaï 120)! Der
Glücksvogel! Nun wird Alles gut werden!“
Derſelbe Paradiesvogel, deſſen Anblick dem Herzen
der Nitetis ſo wunderbaren Troſt gebracht hatte, ſchenkte
auch Atoſſa neue Zuverſicht.
Prüfend, ob ſie von Niemand geſehn werde, ſchaute
ſie in den Garten. Als ſie ſich überzeugt hatte, daß
Keiner, außer einem alten Gärtner, in demſelben ver-
weile, ſchwang ſie ſich, behend wie ein Reh, aus dem
Fenſter hinaus, brach einige Roſenblüten und Cypreſſen-
zweige und näherte ſich mit denſelben dem Greiſe, welcher
ihrem Treiben kopfſchüttelnd zuſah.
Schmeichleriſch liebkoſte ſie die Wangen des Alten,
legte ihre Blumen in ſeine gebräunte Hand und fragte:
„Haſt Du mich lieb, Sabaces?“
„O Herrin!“ lautete die einzige Antwort des Grei-
ſes, der den Saum des Gewandes der Königstochter in-
brünſtig an ſeine Lippen drückte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/232>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.