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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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Nun ist es so lieblich, so köstlich zu schauen,
Wie Kleider der Blumen auf blühenden Auen.
Wie Gottes Gewänder, so ist es gewebt,
Wie Kleider des Herrn, der die Welten umschwebt;
So künstlich gewoben, so herrlich gemacht,
Wie Kleider des Herrn, der die Völker bewacht."112)

Der Vogel lauschte, das mit wallenden Federn ver-
zierte Köpfchen neugierigklug hin und herwendend, auf die-
sen Gesang und flog fort, sobald derselbe beendet war.
Nitetis schaute dem vermeinten Phönix, einem Paradies-
vogel, der das Kettchen, welches ihn an einen Baum im
Thiergarten gefesselt, zerrissen hatte, freundlich nach. Eine
wunderbare Zuversicht auf Rettung zog in ihr Herz, denn
sie meinte, der Gott Ra habe ihr seinen Vogel zugesendet,
um sie wiederum seiner Gunst zu versichern. So lange
man wünscht und hofft, kann man viel Unglück ertragen;
kommt das Glück nicht, so verlängert sich die Erwartung,
und mit ihr die Süßigkeit, welche ihrem Wesen innewohnt.
Diese Stimmung ist sich selbst genug und enthält eine Art
Genuß, der die Stelle der Wirklichkeit vertreten kann. Mit
neuer Hoffnung legte sich Nitetis, ermattet wie sie war, auf
den Diwan nieder und versank bald gegen ihren Willen,
ohne das Gift berührt zu haben, in einen tiefen, traum-
losen Schlaf.

Den Unglücklichen, welche die Nacht durchweinen,
pflegt die aufgehende Sonne tröstend in's Herz zu scheinen,
während dieselbe den Schuldigen, die das Dunkel aufsuchen,
mit ihrem reinen Lichte eine unwillkommene Erscheinung zu
sein pflegt. Jndessen Nitetis schlief, wachte Mandane, ge-
quält von furchtbaren Gewissensbissen. Wie gern würde sie
die Sonne, welche ihrer gütigen Herrin durch ihre Schuld
den Tod bringen sollte, zurückgehalten und von nun an in

Nun iſt es ſo lieblich, ſo köſtlich zu ſchauen,
Wie Kleider der Blumen auf blühenden Auen.
Wie Gottes Gewänder, ſo iſt es gewebt,
Wie Kleider des Herrn, der die Welten umſchwebt;
So künſtlich gewoben, ſo herrlich gemacht,
Wie Kleider des Herrn, der die Völker bewacht.“112)

Der Vogel lauſchte, das mit wallenden Federn ver-
zierte Köpfchen neugierigklug hin und herwendend, auf die-
ſen Geſang und flog fort, ſobald derſelbe beendet war.
Nitetis ſchaute dem vermeinten Phönix, einem Paradies-
vogel, der das Kettchen, welches ihn an einen Baum im
Thiergarten gefeſſelt, zerriſſen hatte, freundlich nach. Eine
wunderbare Zuverſicht auf Rettung zog in ihr Herz, denn
ſie meinte, der Gott Ra habe ihr ſeinen Vogel zugeſendet,
um ſie wiederum ſeiner Gunſt zu verſichern. So lange
man wünſcht und hofft, kann man viel Unglück ertragen;
kommt das Glück nicht, ſo verlängert ſich die Erwartung,
und mit ihr die Süßigkeit, welche ihrem Weſen innewohnt.
Dieſe Stimmung iſt ſich ſelbſt genug und enthält eine Art
Genuß, der die Stelle der Wirklichkeit vertreten kann. Mit
neuer Hoffnung legte ſich Nitetis, ermattet wie ſie war, auf
den Diwan nieder und verſank bald gegen ihren Willen,
ohne das Gift berührt zu haben, in einen tiefen, traum-
loſen Schlaf.

Den Unglücklichen, welche die Nacht durchweinen,
pflegt die aufgehende Sonne tröſtend in’s Herz zu ſcheinen,
während dieſelbe den Schuldigen, die das Dunkel aufſuchen,
mit ihrem reinen Lichte eine unwillkommene Erſcheinung zu
ſein pflegt. Jndeſſen Nitetis ſchlief, wachte Mandane, ge-
quält von furchtbaren Gewiſſensbiſſen. Wie gern würde ſie
die Sonne, welche ihrer gütigen Herrin durch ihre Schuld
den Tod bringen ſollte, zurückgehalten und von nun an in

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[188/0190] Nun iſt es ſo lieblich, ſo köſtlich zu ſchauen, Wie Kleider der Blumen auf blühenden Auen. Wie Gottes Gewänder, ſo iſt es gewebt, Wie Kleider des Herrn, der die Welten umſchwebt; So künſtlich gewoben, ſo herrlich gemacht, Wie Kleider des Herrn, der die Völker bewacht.“112) Der Vogel lauſchte, das mit wallenden Federn ver- zierte Köpfchen neugierigklug hin und herwendend, auf die- ſen Geſang und flog fort, ſobald derſelbe beendet war. Nitetis ſchaute dem vermeinten Phönix, einem Paradies- vogel, der das Kettchen, welches ihn an einen Baum im Thiergarten gefeſſelt, zerriſſen hatte, freundlich nach. Eine wunderbare Zuverſicht auf Rettung zog in ihr Herz, denn ſie meinte, der Gott Ra habe ihr ſeinen Vogel zugeſendet, um ſie wiederum ſeiner Gunſt zu verſichern. So lange man wünſcht und hofft, kann man viel Unglück ertragen; kommt das Glück nicht, ſo verlängert ſich die Erwartung, und mit ihr die Süßigkeit, welche ihrem Weſen innewohnt. Dieſe Stimmung iſt ſich ſelbſt genug und enthält eine Art Genuß, der die Stelle der Wirklichkeit vertreten kann. Mit neuer Hoffnung legte ſich Nitetis, ermattet wie ſie war, auf den Diwan nieder und verſank bald gegen ihren Willen, ohne das Gift berührt zu haben, in einen tiefen, traum- loſen Schlaf. Den Unglücklichen, welche die Nacht durchweinen, pflegt die aufgehende Sonne tröſtend in’s Herz zu ſcheinen, während dieſelbe den Schuldigen, die das Dunkel aufſuchen, mit ihrem reinen Lichte eine unwillkommene Erſcheinung zu ſein pflegt. Jndeſſen Nitetis ſchlief, wachte Mandane, ge- quält von furchtbaren Gewiſſensbiſſen. Wie gern würde ſie die Sonne, welche ihrer gütigen Herrin durch ihre Schuld den Tod bringen ſollte, zurückgehalten und von nun an in

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/190>, abgerufen am 15.10.2024.