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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 1. Stuttgart, 1864.

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Rhodopis erbleichte.

"Verlaß uns!" herrschte sie der Sclavin zu. Dann
stellte sie sich vor ihre Enkelin, legte die Hände auf die
Schultern derselben und sprach: ,Sieh mir in die Augen,
Sappho! Kannst Du mich noch ansehen, ebenso heiter,
ebenso kindlich rein, als vor der Ankunft jenes Per-
sers?'"

Das Mädchen schaute lächelnd und freudig zu der
Großmutter empor; da zog sie Rhodopis an ihre Brust,
küßte sie und sprach: "Seit Du die Kinderschuhe ausge-
zogen hast, war ich bestrebt, Dich zu einer würdigen
Jungfrau zu machen und Dich vor der Liebe zu bewahren.
-- Jch wollte Dir bald einen passenden Gatten erwählen
und Dich demselben nach hellenischer Sitte 203) zum Weibe
geben; aber die Götter haben es anders gewollt. Eros
spottet aller Schranken, welche Menschenhände ihm entge-
genzustellen vermögen; das heiße äolische 204) Blut in Dei-
nen Adern hat Liebe gefordert, das stürmische Herz Deiner
lesbischen Ahnen klopft auch in Deiner Brust. -- Das
Geschehene ist nicht zu ändern. Bewahre denn die Freu-
denstunden dieser, Deiner reinen, ersten Liebe, wie ein
kostbares Eigenthum in dem Hause Deiner Erinnerung,
denn die Gegenwart eines jeden Menschen wird früher
oder später so arm und öde, daß er solcher Erinnerungs-
schätze bedarf, um nicht zu verschmachten. Gedenke des
schönen Knaben in der Stille, sage ihm Lebewohl, wenn
er in seine Heimat zurückkehrt, aber hüte Dich auf ein
Wiedersehen zu hoffen. Der Sinn der Perser ist leicht und
wankelmüthig; alles Neue reizt ihn, alles Fremde nimmt
er auf mit offenen Armen 205). Dein anmuthiges Wesen
hat dem Königssohne wohl gefallen; er glaubt, daß er
Dich liebt, aber er ist jung und schön, von allen Seiten

Rhodopis erbleichte.

„Verlaß uns!“ herrſchte ſie der Sclavin zu. Dann
ſtellte ſie ſich vor ihre Enkelin, legte die Hände auf die
Schultern derſelben und ſprach: ‚Sieh mir in die Augen,
Sappho! Kannſt Du mich noch anſehen, ebenſo heiter,
ebenſo kindlich rein, als vor der Ankunft jenes Per-
ſers?‘“

Das Mädchen ſchaute lächelnd und freudig zu der
Großmutter empor; da zog ſie Rhodopis an ihre Bruſt,
küßte ſie und ſprach: „Seit Du die Kinderſchuhe ausge-
zogen haſt, war ich beſtrebt, Dich zu einer würdigen
Jungfrau zu machen und Dich vor der Liebe zu bewahren.
— Jch wollte Dir bald einen paſſenden Gatten erwählen
und Dich demſelben nach helleniſcher Sitte 203) zum Weibe
geben; aber die Götter haben es anders gewollt. Eros
ſpottet aller Schranken, welche Menſchenhände ihm entge-
genzuſtellen vermögen; das heiße äoliſche 204) Blut in Dei-
nen Adern hat Liebe gefordert, das ſtürmiſche Herz Deiner
lesbiſchen Ahnen klopft auch in Deiner Bruſt. — Das
Geſchehene iſt nicht zu ändern. Bewahre denn die Freu-
denſtunden dieſer, Deiner reinen, erſten Liebe, wie ein
koſtbares Eigenthum in dem Hauſe Deiner Erinnerung,
denn die Gegenwart eines jeden Menſchen wird früher
oder ſpäter ſo arm und öde, daß er ſolcher Erinnerungs-
ſchätze bedarf, um nicht zu verſchmachten. Gedenke des
ſchönen Knaben in der Stille, ſage ihm Lebewohl, wenn
er in ſeine Heimat zurückkehrt, aber hüte Dich auf ein
Wiederſehen zu hoffen. Der Sinn der Perſer iſt leicht und
wankelmüthig; alles Neue reizt ihn, alles Fremde nimmt
er auf mit offenen Armen 205). Dein anmuthiges Weſen
hat dem Königsſohne wohl gefallen; er glaubt, daß er
Dich liebt, aber er iſt jung und ſchön, von allen Seiten

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[169/0187] Rhodopis erbleichte. „Verlaß uns!“ herrſchte ſie der Sclavin zu. Dann ſtellte ſie ſich vor ihre Enkelin, legte die Hände auf die Schultern derſelben und ſprach: ‚Sieh mir in die Augen, Sappho! Kannſt Du mich noch anſehen, ebenſo heiter, ebenſo kindlich rein, als vor der Ankunft jenes Per- ſers?‘“ Das Mädchen ſchaute lächelnd und freudig zu der Großmutter empor; da zog ſie Rhodopis an ihre Bruſt, küßte ſie und ſprach: „Seit Du die Kinderſchuhe ausge- zogen haſt, war ich beſtrebt, Dich zu einer würdigen Jungfrau zu machen und Dich vor der Liebe zu bewahren. — Jch wollte Dir bald einen paſſenden Gatten erwählen und Dich demſelben nach helleniſcher Sitte 203) zum Weibe geben; aber die Götter haben es anders gewollt. Eros ſpottet aller Schranken, welche Menſchenhände ihm entge- genzuſtellen vermögen; das heiße äoliſche 204) Blut in Dei- nen Adern hat Liebe gefordert, das ſtürmiſche Herz Deiner lesbiſchen Ahnen klopft auch in Deiner Bruſt. — Das Geſchehene iſt nicht zu ändern. Bewahre denn die Freu- denſtunden dieſer, Deiner reinen, erſten Liebe, wie ein koſtbares Eigenthum in dem Hauſe Deiner Erinnerung, denn die Gegenwart eines jeden Menſchen wird früher oder ſpäter ſo arm und öde, daß er ſolcher Erinnerungs- ſchätze bedarf, um nicht zu verſchmachten. Gedenke des ſchönen Knaben in der Stille, ſage ihm Lebewohl, wenn er in ſeine Heimat zurückkehrt, aber hüte Dich auf ein Wiederſehen zu hoffen. Der Sinn der Perſer iſt leicht und wankelmüthig; alles Neue reizt ihn, alles Fremde nimmt er auf mit offenen Armen 205). Dein anmuthiges Weſen hat dem Königsſohne wohl gefallen; er glaubt, daß er Dich liebt, aber er iſt jung und ſchön, von allen Seiten

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 1. Stuttgart, 1864, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter01_1864/187>, abgerufen am 30.04.2024.