Jetzt gerieth der Zug in Stocken, denn eine zahl- reiche Menschenmasse hatte sich vor einem der schönsten Häuser, in der zum Neith-Tempel führenden Straße, dessen wenige Fenster (die meisten pflegten sich dem Hofe und Garten entgegen zu öffnen) mit Laden verschlossen waren, zusammengerottet.
Jn der Hausthür stand ein schreiender Greis im schlichten, weißen Gewande eines priesterlichen Dieners, der einer Anzahl von andern Mitgliedern seines Standes verwehren wollte, eine große Kiste aus dem Hause zu entfernen.
"Wer gestattet Euch, meinen Herrn zu bestehlen?" Schrie er mit wüthenden Geberden. "Jch bin der Hüter dieses Hauses, und mein Herr hat mir, als er vom Kö- nige nach Persien, das die Götter vernichten mögen, ge- schickt wurde, befohlen, absonderlich auf diese Kiste, in welcher seine Schriften liegen, Acht zu haben!"
"Beruhige Dich, alter Hib!" rief der Tempeldiener, wel- chen wir beim Empfange der Asiatischen Gesandtschaft kennen gelernt haben, "der Oberpriester der großen Neith, der Herr Deines Herrn, hat uns hierher gesendet. Es müssen seltsame Schriften in dieser Kiste stecken, sonst würde uns Neithoteph nicht mit dem Auftrage, sie ihm zu holen, beehrt haben."
"Aber ich leide nicht, daß das Eigenthum meines Herrn, des großen Arztes Nebenchari, gestohlen werde!" schrie der Alte. "Jch will mir schon Recht schaffen, und wenn es nöthig ist, bis zum Könige gehen!"
"Halt da!" rief jetzt der Tempeldiener. "So ist's recht. Macht, daß ihr mit der Kiste fortkommt, -- ihr Männer! Tragt dieselbe sogleich zum Oberpriester; Du aber, Alter, würdest klüger handeln, wenn Du Deine Zunge hüten und bedenken wolltest, daß auch Du ein Diener meines Herrn
Jetzt gerieth der Zug in Stocken, denn eine zahl- reiche Menſchenmaſſe hatte ſich vor einem der ſchönſten Häuſer, in der zum Neith-Tempel führenden Straße, deſſen wenige Fenſter (die meiſten pflegten ſich dem Hofe und Garten entgegen zu öffnen) mit Laden verſchloſſen waren, zuſammengerottet.
Jn der Hausthür ſtand ein ſchreiender Greis im ſchlichten, weißen Gewande eines prieſterlichen Dieners, der einer Anzahl von andern Mitgliedern ſeines Standes verwehren wollte, eine große Kiſte aus dem Hauſe zu entfernen.
„Wer geſtattet Euch, meinen Herrn zu beſtehlen?“ Schrie er mit wüthenden Geberden. „Jch bin der Hüter dieſes Hauſes, und mein Herr hat mir, als er vom Kö- nige nach Perſien, das die Götter vernichten mögen, ge- ſchickt wurde, befohlen, abſonderlich auf dieſe Kiſte, in welcher ſeine Schriften liegen, Acht zu haben!“
„Beruhige Dich, alter Hib!“ rief der Tempeldiener, wel- chen wir beim Empfange der Aſiatiſchen Geſandtſchaft kennen gelernt haben, „der Oberprieſter der großen Neith, der Herr Deines Herrn, hat uns hierher geſendet. Es müſſen ſeltſame Schriften in dieſer Kiſte ſtecken, ſonſt würde uns Neithoteph nicht mit dem Auftrage, ſie ihm zu holen, beehrt haben.“
„Aber ich leide nicht, daß das Eigenthum meines Herrn, des großen Arztes Nebenchari, geſtohlen werde!“ ſchrie der Alte. „Jch will mir ſchon Recht ſchaffen, und wenn es nöthig iſt, bis zum Könige gehen!“
„Halt da!“ rief jetzt der Tempeldiener. „So iſt’s recht. Macht, daß ihr mit der Kiſte fortkommt, — ihr Männer! Tragt dieſelbe ſogleich zum Oberprieſter; Du aber, Alter, würdeſt klüger handeln, wenn Du Deine Zunge hüten und bedenken wollteſt, daß auch Du ein Diener meines Herrn
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Jetzt gerieth der Zug in Stocken, denn eine zahl-
reiche Menſchenmaſſe hatte ſich vor einem der ſchönſten
Häuſer, in der zum Neith-Tempel führenden Straße, deſſen
wenige Fenſter (die meiſten pflegten ſich dem Hofe und
Garten entgegen zu öffnen) mit Laden verſchloſſen waren,
zuſammengerottet.
Jn der Hausthür ſtand ein ſchreiender Greis im
ſchlichten, weißen Gewande eines prieſterlichen Dieners,
der einer Anzahl von andern Mitgliedern ſeines Standes
verwehren wollte, eine große Kiſte aus dem Hauſe zu
entfernen.
„Wer geſtattet Euch, meinen Herrn zu beſtehlen?“
Schrie er mit wüthenden Geberden. „Jch bin der Hüter
dieſes Hauſes, und mein Herr hat mir, als er vom Kö-
nige nach Perſien, das die Götter vernichten mögen, ge-
ſchickt wurde, befohlen, abſonderlich auf dieſe Kiſte, in
welcher ſeine Schriften liegen, Acht zu haben!“
„Beruhige Dich, alter Hib!“ rief der Tempeldiener, wel-
chen wir beim Empfange der Aſiatiſchen Geſandtſchaft kennen
gelernt haben, „der Oberprieſter der großen Neith, der Herr
Deines Herrn, hat uns hierher geſendet. Es müſſen ſeltſame
Schriften in dieſer Kiſte ſtecken, ſonſt würde uns Neithoteph
nicht mit dem Auftrage, ſie ihm zu holen, beehrt haben.“
„Aber ich leide nicht, daß das Eigenthum meines
Herrn, des großen Arztes Nebenchari, geſtohlen werde!“
ſchrie der Alte. „Jch will mir ſchon Recht ſchaffen, und
wenn es nöthig iſt, bis zum Könige gehen!“
„Halt da!“ rief jetzt der Tempeldiener. „So iſt’s recht.
Macht, daß ihr mit der Kiſte fortkommt, — ihr Männer!
Tragt dieſelbe ſogleich zum Oberprieſter; Du aber, Alter,
würdeſt klüger handeln, wenn Du Deine Zunge hüten und
bedenken wollteſt, daß auch Du ein Diener meines Herrn
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 1. Stuttgart, 1864, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter01_1864/133>, abgerufen am 22.07.2024.
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