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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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die Reihen reproducierbar zu machen, kann man zählen. Etwas
Ähnliches fehlt zunächst auf der Seite der Wirkungen. Hier
giebt es nur eine Alternative: eine Reproduktion ist entweder
möglich oder sie ist unmöglich; sie geschieht oder bleibt aus.
Wir setzen zwar voraus, dass sie unter verschiedenen Um-
ständen dem wirklichen Eintreten auch mehr oder weniger
nahe sein könne, dass das eigentliche innere Leben der Reihen
also graduelle Verschiedenheiten habe. Allein, solange wir
unsere Beobachtungen auf das beschränken, was aus der in-
neren Welt zufällig, oder auch auf den Ruf unseres Willens,
nach aussen tritt, sind alle diese inneren Verschiedenheiten
für uns in gleicher Weise nicht vorhanden.

Bei etwas geringerer Beschaulichkeit können wir sie in-
dessen auf einem Umwege auch äusserlich hervortreten lassen.

Ein Gedicht werde auswendig gelernt und dann nicht
wieder repetiert. Wir wollen annehmen, dass es nach einem
halben Jahre vergessen sei: keine Anstrengung des Besinnens
vermöge es wieder ins Bewusstsein zurückzurufen, höchstens
vereinzelte Bruchstücke kehren wieder. Gesetzt, es werde
jetzt aufs neue auswendig gelernt. Dann zeigt sich, dass es,
obwohl allem Anschein nach total vergessen, doch noch eine
kräftige Wirkung entfaltet. Das Auswendiglernen wird merk-
lich weniger Zeit oder merklich weniger Wiederholungen in
Anspruch nehmen, als das erste Mal; oder auch als jetzt nötig
sein würden, um ein ähnliches und gleichlanges Gedicht aus-
wendig zu lernen. An der Differenz dieser Zeiten oder Wieder-
holungen gewinnen wir offenbar ein gewisses Mass für die
innere Energie, welche dem das Gedicht ausmachenden ge-
ordneten Vorstellungskomplex ein halbes Jahr nach seiner
ersten Einprägung noch beiwohnt. Nach einer kürzeren Zeit
würde die Differenz vermutlich grösser gefunden werden, nach
einer längeren geringer; war das erste Auswendiglernen ein

die Reihen reproducierbar zu machen, kann man zählen. Etwas
Ähnliches fehlt zunächst auf der Seite der Wirkungen. Hier
giebt es nur eine Alternative: eine Reproduktion ist entweder
möglich oder sie ist unmöglich; sie geschieht oder bleibt aus.
Wir setzen zwar voraus, daſs sie unter verschiedenen Um-
ständen dem wirklichen Eintreten auch mehr oder weniger
nahe sein könne, daſs das eigentliche innere Leben der Reihen
also graduelle Verschiedenheiten habe. Allein, solange wir
unsere Beobachtungen auf das beschränken, was aus der in-
neren Welt zufällig, oder auch auf den Ruf unseres Willens,
nach auſsen tritt, sind alle diese inneren Verschiedenheiten
für uns in gleicher Weise nicht vorhanden.

Bei etwas geringerer Beschaulichkeit können wir sie in-
dessen auf einem Umwege auch äuſserlich hervortreten lassen.

Ein Gedicht werde auswendig gelernt und dann nicht
wieder repetiert. Wir wollen annehmen, daſs es nach einem
halben Jahre vergessen sei: keine Anstrengung des Besinnens
vermöge es wieder ins Bewuſstsein zurückzurufen, höchstens
vereinzelte Bruchstücke kehren wieder. Gesetzt, es werde
jetzt aufs neue auswendig gelernt. Dann zeigt sich, daſs es,
obwohl allem Anschein nach total vergessen, doch noch eine
kräftige Wirkung entfaltet. Das Auswendiglernen wird merk-
lich weniger Zeit oder merklich weniger Wiederholungen in
Anspruch nehmen, als das erste Mal; oder auch als jetzt nötig
sein würden, um ein ähnliches und gleichlanges Gedicht aus-
wendig zu lernen. An der Differenz dieser Zeiten oder Wieder-
holungen gewinnen wir offenbar ein gewisses Maſs für die
innere Energie, welche dem das Gedicht ausmachenden ge-
ordneten Vorstellungskomplex ein halbes Jahr nach seiner
ersten Einprägung noch beiwohnt. Nach einer kürzeren Zeit
würde die Differenz vermutlich gröſser gefunden werden, nach
einer längeren geringer; war das erste Auswendiglernen ein

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[11/0027] die Reihen reproducierbar zu machen, kann man zählen. Etwas Ähnliches fehlt zunächst auf der Seite der Wirkungen. Hier giebt es nur eine Alternative: eine Reproduktion ist entweder möglich oder sie ist unmöglich; sie geschieht oder bleibt aus. Wir setzen zwar voraus, daſs sie unter verschiedenen Um- ständen dem wirklichen Eintreten auch mehr oder weniger nahe sein könne, daſs das eigentliche innere Leben der Reihen also graduelle Verschiedenheiten habe. Allein, solange wir unsere Beobachtungen auf das beschränken, was aus der in- neren Welt zufällig, oder auch auf den Ruf unseres Willens, nach auſsen tritt, sind alle diese inneren Verschiedenheiten für uns in gleicher Weise nicht vorhanden. Bei etwas geringerer Beschaulichkeit können wir sie in- dessen auf einem Umwege auch äuſserlich hervortreten lassen. Ein Gedicht werde auswendig gelernt und dann nicht wieder repetiert. Wir wollen annehmen, daſs es nach einem halben Jahre vergessen sei: keine Anstrengung des Besinnens vermöge es wieder ins Bewuſstsein zurückzurufen, höchstens vereinzelte Bruchstücke kehren wieder. Gesetzt, es werde jetzt aufs neue auswendig gelernt. Dann zeigt sich, daſs es, obwohl allem Anschein nach total vergessen, doch noch eine kräftige Wirkung entfaltet. Das Auswendiglernen wird merk- lich weniger Zeit oder merklich weniger Wiederholungen in Anspruch nehmen, als das erste Mal; oder auch als jetzt nötig sein würden, um ein ähnliches und gleichlanges Gedicht aus- wendig zu lernen. An der Differenz dieser Zeiten oder Wieder- holungen gewinnen wir offenbar ein gewisses Maſs für die innere Energie, welche dem das Gedicht ausmachenden ge- ordneten Vorstellungskomplex ein halbes Jahr nach seiner ersten Einprägung noch beiwohnt. Nach einer kürzeren Zeit würde die Differenz vermutlich gröſser gefunden werden, nach einer längeren geringer; war das erste Auswendiglernen ein

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/27>, abgerufen am 26.04.2024.