Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

Fällen bilden sich Verknüpfungen, die man, bei ihrer völligen
Gleichartigkeit nicht anders als mit dem gemeinsamen Namen
"Associationen" bezeichnen kann. Nur sind dieselben von ver-
schiedener Stärke. Je mehr die Aufeinanderfolge der verknüpften
Vorstellungen sich der idealen Unmittelbarkeit nähert, desto
stärker, je weiter sie sich davon entfernt, desto schwächer
sind die zusammenhaltenden Fäden. Die Associationen der
entfernteren Glieder, obwohl thatsächlich vorhanden und durch
geeignete Mittel nachweisbar, haben doch, wegen ihrer gerin-
gen Stärke, praktisch keine Bedeutung mehr; die der näheren
dagegen sind von relativer Erheblichkeit und werden darum
ihren Einfluss wohl vielfach geltend machen. Wären freilich die
Reihen ganz sich selbst überlassen, und würden sie immer nur in
derselben Ordnung erzeugt, so würde für jedes Glied immer
nur eine Association zum Vorschein kommen, die relativ
stärkste, die Association mit dem unmittelbar folgenden Gliede.
Aber Vorstellungsreihen sind eben nie sich selbst überlassen.
Reiche und rasch wechselnde Schicksale bringen sie in die
vielfältigsten Beziehungen; sie kehren wieder in den verschie-
densten Kombinationen ihrer Glieder. Und da müssen unter
Umständen auch die stärkeren der minder starken Associa-
tionen zwischen entfernteren Gliedern Gelegenheit finden, ihr
Vorhandensein zu dokumentieren und modificierend in das
innere Getriebe einzugreifen. Man erkennt leicht, wie sie ein
schnelleres Wachstum der von der Seele beherrschten Vor-
stellungsmassen, eine reichere Gliederung und eine vielsei-
tigere Verzweigung derselben begünstigen müssen; freilich auch
eine grössere Mannigfaltigkeit und damit scheinbar eine
grössere Willkür und Unregelmässsigkeit des geistigen Ge-
schehens.

Ehe ich weiter gehe, noch einige Worte über die oben
(S. 124) berührte "Ableitung" der Association von aufeinander

Fällen bilden sich Verknüpfungen, die man, bei ihrer völligen
Gleichartigkeit nicht anders als mit dem gemeinsamen Namen
„Associationen“ bezeichnen kann. Nur sind dieselben von ver-
schiedener Stärke. Je mehr die Aufeinanderfolge der verknüpften
Vorstellungen sich der idealen Unmittelbarkeit nähert, desto
stärker, je weiter sie sich davon entfernt, desto schwächer
sind die zusammenhaltenden Fäden. Die Associationen der
entfernteren Glieder, obwohl thatsächlich vorhanden und durch
geeignete Mittel nachweisbar, haben doch, wegen ihrer gerin-
gen Stärke, praktisch keine Bedeutung mehr; die der näheren
dagegen sind von relativer Erheblichkeit und werden darum
ihren Einfluſs wohl vielfach geltend machen. Wären freilich die
Reihen ganz sich selbst überlassen, und würden sie immer nur in
derselben Ordnung erzeugt, so würde für jedes Glied immer
nur eine Association zum Vorschein kommen, die relativ
stärkste, die Association mit dem unmittelbar folgenden Gliede.
Aber Vorstellungsreihen sind eben nie sich selbst überlassen.
Reiche und rasch wechselnde Schicksale bringen sie in die
vielfältigsten Beziehungen; sie kehren wieder in den verschie-
densten Kombinationen ihrer Glieder. Und da müssen unter
Umständen auch die stärkeren der minder starken Associa-
tionen zwischen entfernteren Gliedern Gelegenheit finden, ihr
Vorhandensein zu dokumentieren und modificierend in das
innere Getriebe einzugreifen. Man erkennt leicht, wie sie ein
schnelleres Wachstum der von der Seele beherrschten Vor-
stellungsmassen, eine reichere Gliederung und eine vielsei-
tigere Verzweigung derselben begünstigen müssen; freilich auch
eine gröſsere Mannigfaltigkeit und damit scheinbar eine
gröſsere Willkür und Unregelmäſssigkeit des geistigen Ge-
schehens.

Ehe ich weiter gehe, noch einige Worte über die oben
(S. 124) berührte „Ableitung“ der Association von aufeinander

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0165" n="149"/>
Fällen bilden sich Verknüpfungen, die man, bei ihrer völligen<lb/>
Gleichartigkeit nicht anders als mit dem gemeinsamen Namen<lb/>
&#x201E;Associationen&#x201C; bezeichnen kann. Nur sind dieselben von ver-<lb/>
schiedener Stärke. Je mehr die Aufeinanderfolge der verknüpften<lb/>
Vorstellungen sich der idealen Unmittelbarkeit nähert, desto<lb/>
stärker, je weiter sie sich davon entfernt, desto schwächer<lb/>
sind die zusammenhaltenden Fäden. Die Associationen der<lb/>
entfernteren Glieder, obwohl thatsächlich vorhanden und durch<lb/>
geeignete Mittel nachweisbar, haben doch, wegen ihrer gerin-<lb/>
gen Stärke, praktisch keine Bedeutung mehr; die der näheren<lb/>
dagegen sind von relativer Erheblichkeit und werden darum<lb/>
ihren Einflu&#x017F;s wohl vielfach geltend machen. Wären freilich die<lb/>
Reihen ganz sich selbst überlassen, und würden sie immer nur in<lb/>
derselben Ordnung erzeugt, so würde für jedes Glied immer<lb/>
nur <hi rendition="#g">eine</hi> Association zum Vorschein kommen, die relativ<lb/>
stärkste, die Association mit dem unmittelbar folgenden Gliede.<lb/>
Aber Vorstellungsreihen sind eben nie sich selbst überlassen.<lb/>
Reiche und rasch wechselnde Schicksale bringen sie in die<lb/>
vielfältigsten Beziehungen; sie kehren wieder in den verschie-<lb/>
densten Kombinationen ihrer Glieder. Und da müssen unter<lb/>
Umständen auch die stärkeren der minder starken Associa-<lb/>
tionen zwischen entfernteren Gliedern Gelegenheit finden, ihr<lb/>
Vorhandensein zu dokumentieren und modificierend in das<lb/>
innere Getriebe einzugreifen. Man erkennt leicht, wie sie ein<lb/>
schnelleres Wachstum der von der Seele beherrschten Vor-<lb/>
stellungsmassen, eine reichere Gliederung und eine vielsei-<lb/>
tigere Verzweigung derselben begünstigen müssen; freilich auch<lb/>
eine grö&#x017F;sere Mannigfaltigkeit und damit <hi rendition="#g">scheinbar</hi> eine<lb/>
grö&#x017F;sere Willkür und Unregelmä&#x017F;ssigkeit des geistigen Ge-<lb/>
schehens.</p><lb/>
          <p>Ehe ich weiter gehe, noch einige Worte über die oben<lb/>
(S. 124) berührte &#x201E;Ableitung&#x201C; der Association von aufeinander<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0165] Fällen bilden sich Verknüpfungen, die man, bei ihrer völligen Gleichartigkeit nicht anders als mit dem gemeinsamen Namen „Associationen“ bezeichnen kann. Nur sind dieselben von ver- schiedener Stärke. Je mehr die Aufeinanderfolge der verknüpften Vorstellungen sich der idealen Unmittelbarkeit nähert, desto stärker, je weiter sie sich davon entfernt, desto schwächer sind die zusammenhaltenden Fäden. Die Associationen der entfernteren Glieder, obwohl thatsächlich vorhanden und durch geeignete Mittel nachweisbar, haben doch, wegen ihrer gerin- gen Stärke, praktisch keine Bedeutung mehr; die der näheren dagegen sind von relativer Erheblichkeit und werden darum ihren Einfluſs wohl vielfach geltend machen. Wären freilich die Reihen ganz sich selbst überlassen, und würden sie immer nur in derselben Ordnung erzeugt, so würde für jedes Glied immer nur eine Association zum Vorschein kommen, die relativ stärkste, die Association mit dem unmittelbar folgenden Gliede. Aber Vorstellungsreihen sind eben nie sich selbst überlassen. Reiche und rasch wechselnde Schicksale bringen sie in die vielfältigsten Beziehungen; sie kehren wieder in den verschie- densten Kombinationen ihrer Glieder. Und da müssen unter Umständen auch die stärkeren der minder starken Associa- tionen zwischen entfernteren Gliedern Gelegenheit finden, ihr Vorhandensein zu dokumentieren und modificierend in das innere Getriebe einzugreifen. Man erkennt leicht, wie sie ein schnelleres Wachstum der von der Seele beherrschten Vor- stellungsmassen, eine reichere Gliederung und eine vielsei- tigere Verzweigung derselben begünstigen müssen; freilich auch eine gröſsere Mannigfaltigkeit und damit scheinbar eine gröſsere Willkür und Unregelmäſssigkeit des geistigen Ge- schehens. Ehe ich weiter gehe, noch einige Worte über die oben (S. 124) berührte „Ableitung“ der Association von aufeinander

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/165
Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/165>, abgerufen am 22.11.2024.