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Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833].

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gen von Geschlecht zu Geschlecht zu vererben. Unter den redenden
Künsten der Hellenen konnte nur die jüngste, die noch frisch und
lebendig unter den Zeitgenossen blühte, des Neuen theilhaftig wer-
den, und die sogenannte Asianische Beredsamkeit, blühend und
überreich an Schmuck, ist ein charakteristisches Erzeugniß dieser
Zeit.

Desto größer war die Umgestaltung, welche sich in den Wis-
senschaften kund zu thun begann. Durch Aristoteles war jener groß-
artige Empirismus ins Leben gerufen, dessen die Wissenschaft be-
durfte, um des ungeheueren Vorrathes von neuem Stoff, den
Alexanders Züge jedem Zweige des menschlichen Erkennens ero-
berten, Herr zu werden. Der König, selbst Schüler des Aristo-
teles, und mit Allem, was die Studien Hellenischer Aerzte, Phi-
losophen und Rhetoren bisher geleistet hatten, sehr vertraut, be-
wahrte, dem Helden unserer Zeit darin gleich, stets das lebendigste
Interesse für dieselben; ihn begleiteten auf seinen Zügen Männer
von allen Fächern der Wissenschaft; sie beobachteten, sie forschten,
sie vermaaßen die neuen Länder und die Hauptstraßen in densel-
ben, sie entwarfen Karten des Reichs für das Archiv des Königs.
Ebenso begann für die geschichtlichen Studien eine neue Epoche;
man konnte jetzt an Ort und Stelle forschen, konnte die Sagen
der Völker mit ihren Denkmalen, ihre Schicksale mit ihren
Sitten vergleichen, und trotz der unzähligen Irrthümer und Mähr-
chen, welche durch die sogenannten Schriftsteller Alexanders ver-
breitet wurden, ist doch erst mit dieser Zeit eine wahrhafte Ge-
schichtsforschung ins Leben getreten. In mancher Beziehung konnte
der Grieche unmittelbar von dem Morgenländer lernen, und die
große Tradition astronomischer Beobachtungen in Babylon, die
bedeutende Arzeneikunde, die im Indischen Lande gewesen zu sein
scheint, die eigenthümlichen Kenntnisse der Anatomie und Mecha-
nik unter den Priestern Aegyptens mochten dem Griechen viel-
fach Neues darbieten. Die eigenthümliche Entwickelung des Grie-
chischen Geistes hatte bisher die Philosophie als den Inbegriff
alles Wissens dargestellt; jetzt emancipirten sich die einzelnen Rich-
tungen des Erkennens, die exacten Wissenschaften begannen sich,
auf selbstständige Emperie gestützt, zu entfalten, während die Phi-
losophie, uneins über das Verhältniß des Denkens zur Wirklichkeit,

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gen von Geſchlecht zu Geſchlecht zu vererben. Unter den redenden
Kuͤnſten der Hellenen konnte nur die juͤngſte, die noch friſch und
lebendig unter den Zeitgenoſſen bluͤhte, des Neuen theilhaftig wer-
den, und die ſogenannte Aſianiſche Beredſamkeit, bluͤhend und
uͤberreich an Schmuck, iſt ein charakteriſtiſches Erzeugniß dieſer
Zeit.

Deſto groͤßer war die Umgeſtaltung, welche ſich in den Wiſ-
ſenſchaften kund zu thun begann. Durch Ariſtoteles war jener groß-
artige Empirismus ins Leben gerufen, deſſen die Wiſſenſchaft be-
durfte, um des ungeheueren Vorrathes von neuem Stoff, den
Alexanders Zuͤge jedem Zweige des menſchlichen Erkennens ero-
berten, Herr zu werden. Der Koͤnig, ſelbſt Schuͤler des Ariſto-
teles, und mit Allem, was die Studien Helleniſcher Aerzte, Phi-
loſophen und Rhetoren bisher geleiſtet hatten, ſehr vertraut, be-
wahrte, dem Helden unſerer Zeit darin gleich, ſtets das lebendigſte
Intereſſe fuͤr dieſelben; ihn begleiteten auf ſeinen Zuͤgen Maͤnner
von allen Faͤchern der Wiſſenſchaft; ſie beobachteten, ſie forſchten,
ſie vermaaßen die neuen Laͤnder und die Hauptſtraßen in denſel-
ben, ſie entwarfen Karten des Reichs fuͤr das Archiv des Koͤnigs.
Ebenſo begann fuͤr die geſchichtlichen Studien eine neue Epoche;
man konnte jetzt an Ort und Stelle forſchen, konnte die Sagen
der Voͤlker mit ihren Denkmalen, ihre Schickſale mit ihren
Sitten vergleichen, und trotz der unzaͤhligen Irrthuͤmer und Maͤhr-
chen, welche durch die ſogenannten Schriftſteller Alexanders ver-
breitet wurden, iſt doch erſt mit dieſer Zeit eine wahrhafte Ge-
ſchichtsforſchung ins Leben getreten. In mancher Beziehung konnte
der Grieche unmittelbar von dem Morgenlaͤnder lernen, und die
große Tradition aſtronomiſcher Beobachtungen in Babylon, die
bedeutende Arzeneikunde, die im Indiſchen Lande geweſen zu ſein
ſcheint, die eigenthuͤmlichen Kenntniſſe der Anatomie und Mecha-
nik unter den Prieſtern Aegyptens mochten dem Griechen viel-
fach Neues darbieten. Die eigenthuͤmliche Entwickelung des Grie-
chiſchen Geiſtes hatte bisher die Philoſophie als den Inbegriff
alles Wiſſens dargeſtellt; jetzt emancipirten ſich die einzelnen Rich-
tungen des Erkennens, die exacten Wiſſenſchaften begannen ſich,
auf ſelbſtſtaͤndige Emperie geſtuͤtzt, zu entfalten, waͤhrend die Phi-
loſophie, uneins uͤber das Verhaͤltniß des Denkens zur Wirklichkeit,

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[547/0561] gen von Geſchlecht zu Geſchlecht zu vererben. Unter den redenden Kuͤnſten der Hellenen konnte nur die juͤngſte, die noch friſch und lebendig unter den Zeitgenoſſen bluͤhte, des Neuen theilhaftig wer- den, und die ſogenannte Aſianiſche Beredſamkeit, bluͤhend und uͤberreich an Schmuck, iſt ein charakteriſtiſches Erzeugniß dieſer Zeit. Deſto groͤßer war die Umgeſtaltung, welche ſich in den Wiſ- ſenſchaften kund zu thun begann. Durch Ariſtoteles war jener groß- artige Empirismus ins Leben gerufen, deſſen die Wiſſenſchaft be- durfte, um des ungeheueren Vorrathes von neuem Stoff, den Alexanders Zuͤge jedem Zweige des menſchlichen Erkennens ero- berten, Herr zu werden. Der Koͤnig, ſelbſt Schuͤler des Ariſto- teles, und mit Allem, was die Studien Helleniſcher Aerzte, Phi- loſophen und Rhetoren bisher geleiſtet hatten, ſehr vertraut, be- wahrte, dem Helden unſerer Zeit darin gleich, ſtets das lebendigſte Intereſſe fuͤr dieſelben; ihn begleiteten auf ſeinen Zuͤgen Maͤnner von allen Faͤchern der Wiſſenſchaft; ſie beobachteten, ſie forſchten, ſie vermaaßen die neuen Laͤnder und die Hauptſtraßen in denſel- ben, ſie entwarfen Karten des Reichs fuͤr das Archiv des Koͤnigs. Ebenſo begann fuͤr die geſchichtlichen Studien eine neue Epoche; man konnte jetzt an Ort und Stelle forſchen, konnte die Sagen der Voͤlker mit ihren Denkmalen, ihre Schickſale mit ihren Sitten vergleichen, und trotz der unzaͤhligen Irrthuͤmer und Maͤhr- chen, welche durch die ſogenannten Schriftſteller Alexanders ver- breitet wurden, iſt doch erſt mit dieſer Zeit eine wahrhafte Ge- ſchichtsforſchung ins Leben getreten. In mancher Beziehung konnte der Grieche unmittelbar von dem Morgenlaͤnder lernen, und die große Tradition aſtronomiſcher Beobachtungen in Babylon, die bedeutende Arzeneikunde, die im Indiſchen Lande geweſen zu ſein ſcheint, die eigenthuͤmlichen Kenntniſſe der Anatomie und Mecha- nik unter den Prieſtern Aegyptens mochten dem Griechen viel- fach Neues darbieten. Die eigenthuͤmliche Entwickelung des Grie- chiſchen Geiſtes hatte bisher die Philoſophie als den Inbegriff alles Wiſſens dargeſtellt; jetzt emancipirten ſich die einzelnen Rich- tungen des Erkennens, die exacten Wiſſenſchaften begannen ſich, auf ſelbſtſtaͤndige Emperie geſtuͤtzt, zu entfalten, waͤhrend die Phi- loſophie, uneins uͤber das Verhaͤltniß des Denkens zur Wirklichkeit, 35 *

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/561>, abgerufen am 28.04.2024.