Familie bei dem Neubau in einige Verlegenheit und Schulden gerathen würde.
Größere Aufmerksamkeit als dieses verdient das sogenannte "Vorgesicht," ein bis zum Schauen oder mindestens deutlichen Hören gesteigertes Ahnungs- vermögen, ganz dem Second sight der Hoch- schotten ähnlich, und hier so gewöhnlich, daß, ob- wohl die Gabe als eine höchst unglückliche eher geheim gehalten wird, man doch überall auf noto- risch damit Behaftete trifft, und im Grunde fast kein Eingeborner sich gänzlich davon freisprechen dürfte. -- Der Vorschauer (Vorgucker) im höheren Grade ist auch äußerlich kenntlich an seinem hell- blonden Haare, dem geisterhaften Blitze der wasser- blauen Augen, und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe; übrigens ist er meistens gesund und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und ohne eine Spur von Ueberspannung. -- Seine Gabe überkömmt ihn zu jeder Tageszeit, am Häufigsten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht, und von fieberhafter Unruhe ins Freie oder ans Fenster getrieben wird; dieser Drang ist so stark, daß ihm kaum Jemand widersteht, obwohl Jeder weiß, daß das Uebel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe gesteigert wird; wogegen fortgesetzter Widerstand es allmäh- lig abnehmen, und endlich gänzlich verschwinden
Familie bei dem Neubau in einige Verlegenheit und Schulden gerathen würde.
Größere Aufmerkſamkeit als dieſes verdient das ſogenannte „Vorgeſicht,“ ein bis zum Schauen oder mindeſtens deutlichen Hören geſteigertes Ahnungs- vermögen, ganz dem Second sight der Hoch- ſchotten ähnlich, und hier ſo gewöhnlich, daß, ob- wohl die Gabe als eine höchſt unglückliche eher geheim gehalten wird, man doch überall auf noto- riſch damit Behaftete trifft, und im Grunde faſt kein Eingeborner ſich gänzlich davon freiſprechen dürfte. — Der Vorſchauer (Vorgucker) im höheren Grade iſt auch äußerlich kenntlich an ſeinem hell- blonden Haare, dem geiſterhaften Blitze der waſſer- blauen Augen, und einer blaſſen oder überzarten Geſichtsfarbe; übrigens iſt er meiſtens geſund und im gewöhnlichen Leben häufig beſchränkt und ohne eine Spur von Ueberſpannung. — Seine Gabe überkömmt ihn zu jeder Tageszeit, am Häufigſten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht, und von fieberhafter Unruhe ins Freie oder ans Fenſter getrieben wird; dieſer Drang iſt ſo ſtark, daß ihm kaum Jemand widerſteht, obwohl Jeder weiß, daß das Uebel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe geſteigert wird; wogegen fortgeſetzter Widerſtand es allmäh- lig abnehmen, und endlich gänzlich verſchwinden
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Familie bei dem Neubau in einige Verlegenheit und
Schulden gerathen würde.
Größere Aufmerkſamkeit als dieſes verdient
das ſogenannte „Vorgeſicht,“ ein bis zum Schauen
oder mindeſtens deutlichen Hören geſteigertes Ahnungs-
vermögen, ganz dem Second sight der Hoch-
ſchotten ähnlich, und hier ſo gewöhnlich, daß, ob-
wohl die Gabe als eine höchſt unglückliche eher
geheim gehalten wird, man doch überall auf noto-
riſch damit Behaftete trifft, und im Grunde faſt
kein Eingeborner ſich gänzlich davon freiſprechen
dürfte. — Der Vorſchauer (Vorgucker) im höheren
Grade iſt auch äußerlich kenntlich an ſeinem hell-
blonden Haare, dem geiſterhaften Blitze der waſſer-
blauen Augen, und einer blaſſen oder überzarten
Geſichtsfarbe; übrigens iſt er meiſtens geſund und
im gewöhnlichen Leben häufig beſchränkt und ohne
eine Spur von Ueberſpannung. — Seine Gabe
überkömmt ihn zu jeder Tageszeit, am Häufigſten
jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht, und
von fieberhafter Unruhe ins Freie oder ans Fenſter
getrieben wird; dieſer Drang iſt ſo ſtark, daß ihm
kaum Jemand widerſteht, obwohl Jeder weiß, daß
das Uebel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schücking aus dem Nachlass Annette von Droste-Hülshoffs herausgegeben, enthalten mehrere Texte, die zum Teil zu Lebzeiten der Autorin bereits andernorts veröffentlicht worden waren. Beispielsweise erschien Droste-Hülshoffs Novelle "Die Judenbuche" zuerst 1842 im "Morgenblatt für gebildete Leser"; die "Westfälischen Schilderungen" erschienen 1845 in den "Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland". Einzelne Gedichte sind in Journalen und Jahrbüchern erschienen, andere wurden aus dem Nachlass erstmals in der hier digitalisierten Edition von Levin Schücking veröffentlicht (z.B. die Gedichte "Der Nachtwanderer", "Doppeltgänger" und "Halt fest!"). In den meisten Fällen handelt es sich somit nicht um Erstveröffentlichungen der Texte, wohl aber um die erste Publikation in Buchform, weshalb die Nachlassedition für das DTA herangezogen wurde.
Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/304>, abgerufen am 27.11.2024.
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