-- kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tu- genden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen.
Unter höchst einfachen und häufig unzuläng- lichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung gerathen, oder vielmehr es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedrige Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene that, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren Gewissen verträglich schien, und nur dem Verlie- renden fiel es zuweilen ein, in alten staubigten Urkunden nachzuschlagen. -- Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmüthig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zu viel theure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene sie nicht begreift. So viel darf man indessen behaupten, daß die Form schwächer, der Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach seiner Ueberzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie
— kurz, ein Fleck, wie es deren ſonſt ſo viele in Deutſchland gab, mit all den Mängeln und Tu- genden, all der Originalität und Beſchränktheit, wie ſie nur in ſolchen Zuſtänden gedeihen.
Unter höchſt einfachen und häufig unzuläng- lichen Geſetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung gerathen, oder vielmehr es hatte ſich neben dem geſetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachläſſigung entſtandenen Verjährung. Die Gutsbeſitzer, denen die niedrige Gerichtsbarkeit zuſtand, ſtraften und belohnten nach ihrer in den meiſten Fällen redlichen Einſicht; der Untergebene that, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren Gewiſſen verträglich ſchien, und nur dem Verlie- renden fiel es zuweilen ein, in alten ſtaubigten Urkunden nachzuſchlagen. — Es iſt ſchwer, jene Zeit unparteiiſch ins Auge zu faſſen; ſie iſt ſeit ihrem Verſchwinden entweder hochmüthig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der ſie erlebte, zu viel theure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene ſie nicht begreift. So viel darf man indeſſen behaupten, daß die Form ſchwächer, der Kern feſter, Vergehen häufiger, Gewiſſenloſigkeit ſeltener waren. Denn wer nach ſeiner Ueberzeugung handelt, und ſei ſie noch ſo mangelhaft, kann nie
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— kurz, ein Fleck, wie es deren ſonſt ſo viele in
Deutſchland gab, mit all den Mängeln und Tu-
genden, all der Originalität und Beſchränktheit,
wie ſie nur in ſolchen Zuſtänden gedeihen.
Unter höchſt einfachen und häufig unzuläng-
lichen Geſetzen waren die Begriffe der Einwohner
von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung
gerathen, oder vielmehr es hatte ſich neben dem
geſetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der
öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch
Vernachläſſigung entſtandenen Verjährung. Die
Gutsbeſitzer, denen die niedrige Gerichtsbarkeit zuſtand,
ſtraften und belohnten nach ihrer in den meiſten
Fällen redlichen Einſicht; der Untergebene that,
was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren
Gewiſſen verträglich ſchien, und nur dem Verlie-
renden fiel es zuweilen ein, in alten ſtaubigten
Urkunden nachzuſchlagen. — Es iſt ſchwer, jene
Zeit unparteiiſch ins Auge zu faſſen; ſie iſt ſeit
ihrem Verſchwinden entweder hochmüthig getadelt
oder albern gelobt worden, da den, der ſie erlebte,
zu viel theure Erinnerungen blenden und der
Spätergeborene ſie nicht begreift. So viel darf
man indeſſen behaupten, daß die Form ſchwächer,
der Kern feſter, Vergehen häufiger, Gewiſſenloſigkeit
ſeltener waren. Denn wer nach ſeiner Ueberzeugung
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schücking aus dem Nachlass Annette von Droste-Hülshoffs herausgegeben, enthalten mehrere Texte, die zum Teil zu Lebzeiten der Autorin bereits andernorts veröffentlicht worden waren. Beispielsweise erschien Droste-Hülshoffs Novelle "Die Judenbuche" zuerst 1842 im "Morgenblatt für gebildete Leser"; die "Westfälischen Schilderungen" erschienen 1845 in den "Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland". Einzelne Gedichte sind in Journalen und Jahrbüchern erschienen, andere wurden aus dem Nachlass erstmals in der hier digitalisierten Edition von Levin Schücking veröffentlicht (z.B. die Gedichte "Der Nachtwanderer", "Doppeltgänger" und "Halt fest!"). In den meisten Fällen handelt es sich somit nicht um Erstveröffentlichungen der Texte, wohl aber um die erste Publikation in Buchform, weshalb die Nachlassedition für das DTA herangezogen wurde.
Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/162>, abgerufen am 23.11.2024.
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