Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Schenke am See.

An Levin S. --

Ist's nicht ein heit'rer Ort, mein junger Freund,
Das kleine Haus, das schier vom Hange gleitet,
Wo so possierlich uns der Wirth erscheint,
So übermächtig sich die Landschaft breitet;
Wo uns ergötzt im neckischen Contrast
Das Wurzelmännchen mit verschmitzter Miene,
Das wie ein Aal sich schlingt und kugelt fast,
Im Angesicht der stolzen Alpenbühne?
Sitz nieder. -- Traube! -- und behend erscheint
Zopfwedelnd der geschäftige Pigmäe;
O sieh, wie die verletzte Beere weint
Blutige Thränen um des Reifes Nähe;
Frisch greif in die kristallne Schale, frisch,
Die saftigen Rubine glühn und locken;
Schon fühl' ich an des Herbstes reichem Tisch
Den kargen Winter nahn auf leisen Socken.
Das sind dir Hieroglyphen, junges Blut,
Und ich, ich will an deiner lieben Seite
Froh schlürfen meiner Neige letztes Gut.
Schau her, schau drüben in die Näh' und Weite;
Wie uns zur Seite sich der Felsen bäumt,
Als könnten wir mit Händen ihn ergreifen,
Wie uns zu Füßen das Gewässer schäumt,
Als könnten wir im Schwunge drüber streifen!
Die Schenke am See.

An Levin S. —

Iſt's nicht ein heit'rer Ort, mein junger Freund,
Das kleine Haus, das ſchier vom Hange gleitet,
Wo ſo poſſierlich uns der Wirth erſcheint,
So übermächtig ſich die Landſchaft breitet;
Wo uns ergötzt im neckiſchen Contraſt
Das Wurzelmännchen mit verſchmitzter Miene,
Das wie ein Aal ſich ſchlingt und kugelt faſt,
Im Angeſicht der ſtolzen Alpenbühne?
Sitz nieder. — Traube! — und behend erſcheint
Zopfwedelnd der geſchäftige Pigmäe;
O ſieh, wie die verletzte Beere weint
Blutige Thränen um des Reifes Nähe;
Friſch greif in die kriſtallne Schale, friſch,
Die ſaftigen Rubine glühn und locken;
Schon fühl' ich an des Herbſtes reichem Tiſch
Den kargen Winter nahn auf leiſen Socken.
Das ſind dir Hieroglyphen, junges Blut,
Und ich, ich will an deiner lieben Seite
Froh ſchlürfen meiner Neige letztes Gut.
Schau her, ſchau drüben in die Näh' und Weite;
Wie uns zur Seite ſich der Felſen bäumt,
Als könnten wir mit Händen ihn ergreifen,
Wie uns zu Füßen das Gewäſſer ſchäumt,
Als könnten wir im Schwunge drüber ſtreifen!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0103" n="89"/>
          </div>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Die Schenke am See.</hi><lb/>
          </head>
          <p rendition="#c"> <hi rendition="#g">An Levin S. &#x2014;</hi> </p><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>I&#x017F;t's nicht ein heit'rer Ort, mein junger Freund,</l><lb/>
              <l>Das kleine Haus, das &#x017F;chier vom Hange gleitet,</l><lb/>
              <l>Wo &#x017F;o po&#x017F;&#x017F;ierlich uns der Wirth er&#x017F;cheint,</l><lb/>
              <l>So übermächtig &#x017F;ich die Land&#x017F;chaft breitet;</l><lb/>
              <l>Wo uns ergötzt im necki&#x017F;chen Contra&#x017F;t</l><lb/>
              <l>Das Wurzelmännchen mit ver&#x017F;chmitzter Miene,</l><lb/>
              <l>Das wie ein Aal &#x017F;ich &#x017F;chlingt und kugelt fa&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>Im Ange&#x017F;icht der &#x017F;tolzen Alpenbühne?</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l>Sitz nieder. &#x2014; Traube! &#x2014; und behend er&#x017F;cheint</l><lb/>
              <l>Zopfwedelnd der ge&#x017F;chäftige Pigmäe;</l><lb/>
              <l>O &#x017F;ieh, wie die verletzte Beere weint</l><lb/>
              <l>Blutige Thränen um des Reifes Nähe;</l><lb/>
              <l>Fri&#x017F;ch greif in die kri&#x017F;tallne Schale, fri&#x017F;ch,</l><lb/>
              <l>Die &#x017F;aftigen Rubine glühn und locken;</l><lb/>
              <l>Schon fühl' ich an des Herb&#x017F;tes reichem Ti&#x017F;ch</l><lb/>
              <l>Den kargen Winter nahn auf lei&#x017F;en Socken.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>Das &#x017F;ind dir Hieroglyphen, junges Blut,</l><lb/>
              <l>Und ich, ich will an deiner lieben Seite</l><lb/>
              <l>Froh &#x017F;chlürfen meiner Neige letztes Gut.</l><lb/>
              <l>Schau her, &#x017F;chau drüben in die Näh' und Weite;</l><lb/>
              <l>Wie uns zur Seite &#x017F;ich der Fel&#x017F;en bäumt,</l><lb/>
              <l>Als könnten wir mit Händen ihn ergreifen,</l><lb/>
              <l>Wie uns zu Füßen das Gewä&#x017F;&#x017F;er &#x017F;chäumt,</l><lb/>
              <l>Als könnten wir im Schwunge drüber &#x017F;treifen!</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0103] Die Schenke am See. An Levin S. — Iſt's nicht ein heit'rer Ort, mein junger Freund, Das kleine Haus, das ſchier vom Hange gleitet, Wo ſo poſſierlich uns der Wirth erſcheint, So übermächtig ſich die Landſchaft breitet; Wo uns ergötzt im neckiſchen Contraſt Das Wurzelmännchen mit verſchmitzter Miene, Das wie ein Aal ſich ſchlingt und kugelt faſt, Im Angeſicht der ſtolzen Alpenbühne? Sitz nieder. — Traube! — und behend erſcheint Zopfwedelnd der geſchäftige Pigmäe; O ſieh, wie die verletzte Beere weint Blutige Thränen um des Reifes Nähe; Friſch greif in die kriſtallne Schale, friſch, Die ſaftigen Rubine glühn und locken; Schon fühl' ich an des Herbſtes reichem Tiſch Den kargen Winter nahn auf leiſen Socken. Das ſind dir Hieroglyphen, junges Blut, Und ich, ich will an deiner lieben Seite Froh ſchlürfen meiner Neige letztes Gut. Schau her, ſchau drüben in die Näh' und Weite; Wie uns zur Seite ſich der Felſen bäumt, Als könnten wir mit Händen ihn ergreifen, Wie uns zu Füßen das Gewäſſer ſchäumt, Als könnten wir im Schwunge drüber ſtreifen!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/103
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/103>, abgerufen am 23.11.2024.