Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_349.001
eigene subjective Zustände, abgewandt von der äusseren Wirklichkeit pdi_349.002
und dem bunten Wechsel von Charakteren und Abenteuern pdi_349.003
in ihr. Der gewaltige Typus dieser Art von Dichtern pdi_349.004
ist Jean Jacques Rousseau. Wir wissen durch ihn selber, pdi_349.005
wie er in seinem 44. Lebensjahr, in der Einsiedelei des Parkes pdi_349.006
von La Chevrette, aus den Träumen seines einsamen Herzens, pdi_349.007
aus der Liebe zur Gräfin d'Houdetot, die auch nicht viel mehr pdi_349.008
als ein Traum war, die Gestalten der neuen Heloise bildete. pdi_349.009
Er erfüllte sie aber ganz mit dem mächtigen Strom von Leidenschaft, pdi_349.010
den er in sich fand, mit dem Erlebniss einer beseelten pdi_349.011
Natur und mit den inneren Traumerlebnissen seines einsamen pdi_349.012
Herzens. Tiefer noch hat er im Emil die innere Geschichte pdi_349.013
einer Seele geschrieben, welche die Wahrheit im Zeitalter der pdi_349.014
Encyklopädisten suchte. Blickt man rückwärts, so war im Alterthum pdi_349.015
Euripides ein solcher nach innen gewandter Dichter: er pdi_349.016
lebte mit den Schriften der Philosophen. Im Mittelalter Dante; pdi_349.017
seine Erlebnisse waren ganz mit den grossen theologischen, pdi_349.018
philosophischen und politischen Kämpfen seines Zeitalters verwebt, pdi_349.019
und seine Seele war ihr Schauplatz. Finden wir Goethe pdi_349.020
im Gleichgewicht des Aussen und Innen, so ist im jungen Schiller pdi_349.021
das innere Erlebniss vielleicht überwiegend; die zweite Hälfte seines pdi_349.022
kurzen Lebens zeigt auf dem dunklen Grunde der Resignation pdi_349.023
die Erhebung der Seele durch philosophisch-geschichtliches Denken pdi_349.024
zu freier Idealität als den herrschenden Vorgang in ihm, während pdi_349.025
ihm die äusseren Realitäten immer mehr entschwanden.

pdi_349.026

Den Dichter unterscheidet endlich, dass sich in ihm die pdi_349.027
Bilder und deren Verbindungen frei über die Grenzen des pdi_349.028
Wirklichen hinaus entfalten. Er schafft Situationen, Gestalten pdi_349.029
und Schicksale, welche diese Wirklichkeit überschreiten. Wie sich pdi_349.030
diese Vorgänge in ihm bilden, in denen das eigentlich schöpferische pdi_349.031
Werk des Dichters vollbracht wird, das bildet das Hauptproblem pdi_349.032
dieser Untersuchung. Die Bezeichnung: dichterische pdi_349.033
Phantasie gewährt uns nur ein Wort, in welchem die Vorgänge pdi_349.034
selber verborgen bleiben.

pdi_349.001
eigene subjective Zustände, abgewandt von der äusseren Wirklichkeit pdi_349.002
und dem bunten Wechsel von Charakteren und Abenteuern pdi_349.003
in ihr. Der gewaltige Typus dieser Art von Dichtern pdi_349.004
ist Jean Jacques Rousseau. Wir wissen durch ihn selber, pdi_349.005
wie er in seinem 44. Lebensjahr, in der Einsiedelei des Parkes pdi_349.006
von La Chevrette, aus den Träumen seines einsamen Herzens, pdi_349.007
aus der Liebe zur Gräfin d'Houdetot, die auch nicht viel mehr pdi_349.008
als ein Traum war, die Gestalten der neuen Heloise bildete. pdi_349.009
Er erfüllte sie aber ganz mit dem mächtigen Strom von Leidenschaft, pdi_349.010
den er in sich fand, mit dem Erlebniss einer beseelten pdi_349.011
Natur und mit den inneren Traumerlebnissen seines einsamen pdi_349.012
Herzens. Tiefer noch hat er im Emil die innere Geschichte pdi_349.013
einer Seele geschrieben, welche die Wahrheit im Zeitalter der pdi_349.014
Encyklopädisten suchte. Blickt man rückwärts, so war im Alterthum pdi_349.015
Euripides ein solcher nach innen gewandter Dichter: er pdi_349.016
lebte mit den Schriften der Philosophen. Im Mittelalter Dante; pdi_349.017
seine Erlebnisse waren ganz mit den grossen theologischen, pdi_349.018
philosophischen und politischen Kämpfen seines Zeitalters verwebt, pdi_349.019
und seine Seele war ihr Schauplatz. Finden wir Goethe pdi_349.020
im Gleichgewicht des Aussen und Innen, so ist im jungen Schiller pdi_349.021
das innere Erlebniss vielleicht überwiegend; die zweite Hälfte seines pdi_349.022
kurzen Lebens zeigt auf dem dunklen Grunde der Resignation pdi_349.023
die Erhebung der Seele durch philosophisch-geschichtliches Denken pdi_349.024
zu freier Idealität als den herrschenden Vorgang in ihm, während pdi_349.025
ihm die äusseren Realitäten immer mehr entschwanden.

pdi_349.026

  Den Dichter unterscheidet endlich, dass sich in ihm die pdi_349.027
Bilder und deren Verbindungen frei über die Grenzen des pdi_349.028
Wirklichen hinaus entfalten. Er schafft Situationen, Gestalten pdi_349.029
und Schicksale, welche diese Wirklichkeit überschreiten. Wie sich pdi_349.030
diese Vorgänge in ihm bilden, in denen das eigentlich schöpferische pdi_349.031
Werk des Dichters vollbracht wird, das bildet das Hauptproblem pdi_349.032
dieser Untersuchung. Die Bezeichnung: dichterische pdi_349.033
Phantasie gewährt uns nur ein Wort, in welchem die Vorgänge pdi_349.034
selber verborgen bleiben.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0051" n="349"/><lb n="pdi_349.001"/>
eigene subjective Zustände, abgewandt von der äusseren Wirklichkeit <lb n="pdi_349.002"/>
und dem bunten Wechsel von Charakteren und Abenteuern <lb n="pdi_349.003"/>
in ihr. Der gewaltige Typus dieser Art von Dichtern <lb n="pdi_349.004"/>
ist Jean Jacques Rousseau. Wir wissen durch ihn selber, <lb n="pdi_349.005"/>
wie er in seinem 44. Lebensjahr, in der Einsiedelei des Parkes <lb n="pdi_349.006"/>
von La Chevrette, aus den Träumen seines einsamen Herzens, <lb n="pdi_349.007"/>
aus der Liebe zur Gräfin d'Houdetot, die auch nicht viel mehr <lb n="pdi_349.008"/>
als ein Traum war, die Gestalten der neuen Heloise bildete. <lb n="pdi_349.009"/>
Er erfüllte sie aber ganz mit dem mächtigen Strom von Leidenschaft, <lb n="pdi_349.010"/>
den er in sich fand, mit dem Erlebniss einer beseelten <lb n="pdi_349.011"/>
Natur und mit den inneren Traumerlebnissen seines einsamen <lb n="pdi_349.012"/>
Herzens. Tiefer noch hat er im Emil die innere Geschichte <lb n="pdi_349.013"/>
einer Seele geschrieben, welche die Wahrheit im Zeitalter der <lb n="pdi_349.014"/>
Encyklopädisten suchte. Blickt man rückwärts, so war im Alterthum <lb n="pdi_349.015"/>
Euripides ein solcher nach innen gewandter Dichter: er <lb n="pdi_349.016"/>
lebte mit den Schriften der Philosophen. Im Mittelalter Dante; <lb n="pdi_349.017"/>
seine Erlebnisse waren ganz mit den grossen theologischen, <lb n="pdi_349.018"/>
philosophischen und politischen Kämpfen seines Zeitalters verwebt, <lb n="pdi_349.019"/>
und seine Seele war ihr Schauplatz. Finden wir Goethe <lb n="pdi_349.020"/>
im Gleichgewicht des Aussen und Innen, so ist im jungen Schiller <lb n="pdi_349.021"/>
das innere Erlebniss vielleicht überwiegend; die zweite Hälfte seines <lb n="pdi_349.022"/>
kurzen Lebens zeigt auf dem dunklen Grunde der Resignation <lb n="pdi_349.023"/>
die Erhebung der Seele durch philosophisch-geschichtliches Denken <lb n="pdi_349.024"/>
zu freier Idealität als den herrschenden Vorgang in ihm, während <lb n="pdi_349.025"/>
ihm die äusseren Realitäten immer mehr entschwanden.</p>
          <lb n="pdi_349.026"/>
          <p>  Den Dichter unterscheidet endlich, dass sich in ihm die <lb n="pdi_349.027"/>
Bilder und deren Verbindungen frei <hi rendition="#g">über die Grenzen</hi> des <lb n="pdi_349.028"/> <hi rendition="#g">Wirklichen</hi> hinaus entfalten. Er schafft Situationen, Gestalten <lb n="pdi_349.029"/>
und Schicksale, welche diese Wirklichkeit überschreiten. Wie sich <lb n="pdi_349.030"/>
diese Vorgänge in ihm bilden, in denen das eigentlich schöpferische <lb n="pdi_349.031"/>
Werk des Dichters vollbracht wird, das bildet das Hauptproblem <lb n="pdi_349.032"/>
dieser Untersuchung. Die Bezeichnung: dichterische <lb n="pdi_349.033"/>
Phantasie gewährt uns nur ein Wort, in welchem die Vorgänge <lb n="pdi_349.034"/>
selber verborgen bleiben.</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[349/0051] pdi_349.001 eigene subjective Zustände, abgewandt von der äusseren Wirklichkeit pdi_349.002 und dem bunten Wechsel von Charakteren und Abenteuern pdi_349.003 in ihr. Der gewaltige Typus dieser Art von Dichtern pdi_349.004 ist Jean Jacques Rousseau. Wir wissen durch ihn selber, pdi_349.005 wie er in seinem 44. Lebensjahr, in der Einsiedelei des Parkes pdi_349.006 von La Chevrette, aus den Träumen seines einsamen Herzens, pdi_349.007 aus der Liebe zur Gräfin d'Houdetot, die auch nicht viel mehr pdi_349.008 als ein Traum war, die Gestalten der neuen Heloise bildete. pdi_349.009 Er erfüllte sie aber ganz mit dem mächtigen Strom von Leidenschaft, pdi_349.010 den er in sich fand, mit dem Erlebniss einer beseelten pdi_349.011 Natur und mit den inneren Traumerlebnissen seines einsamen pdi_349.012 Herzens. Tiefer noch hat er im Emil die innere Geschichte pdi_349.013 einer Seele geschrieben, welche die Wahrheit im Zeitalter der pdi_349.014 Encyklopädisten suchte. Blickt man rückwärts, so war im Alterthum pdi_349.015 Euripides ein solcher nach innen gewandter Dichter: er pdi_349.016 lebte mit den Schriften der Philosophen. Im Mittelalter Dante; pdi_349.017 seine Erlebnisse waren ganz mit den grossen theologischen, pdi_349.018 philosophischen und politischen Kämpfen seines Zeitalters verwebt, pdi_349.019 und seine Seele war ihr Schauplatz. Finden wir Goethe pdi_349.020 im Gleichgewicht des Aussen und Innen, so ist im jungen Schiller pdi_349.021 das innere Erlebniss vielleicht überwiegend; die zweite Hälfte seines pdi_349.022 kurzen Lebens zeigt auf dem dunklen Grunde der Resignation pdi_349.023 die Erhebung der Seele durch philosophisch-geschichtliches Denken pdi_349.024 zu freier Idealität als den herrschenden Vorgang in ihm, während pdi_349.025 ihm die äusseren Realitäten immer mehr entschwanden. pdi_349.026   Den Dichter unterscheidet endlich, dass sich in ihm die pdi_349.027 Bilder und deren Verbindungen frei über die Grenzen des pdi_349.028 Wirklichen hinaus entfalten. Er schafft Situationen, Gestalten pdi_349.029 und Schicksale, welche diese Wirklichkeit überschreiten. Wie sich pdi_349.030 diese Vorgänge in ihm bilden, in denen das eigentlich schöpferische pdi_349.031 Werk des Dichters vollbracht wird, das bildet das Hauptproblem pdi_349.032 dieser Untersuchung. Die Bezeichnung: dichterische pdi_349.033 Phantasie gewährt uns nur ein Wort, in welchem die Vorgänge pdi_349.034 selber verborgen bleiben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/51
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/51>, abgerufen am 23.11.2024.