Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_333.001 Der Grammatiker findet die Sprache als ein fertiges System pdi_333.013 pdi_333.001 Der Grammatiker findet die Sprache als ein fertiges System pdi_333.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0035" n="333"/><lb n="pdi_333.001"/> Theorien der Hallucination gemacht haben, finden wir vorläufig <lb n="pdi_333.002"/> noch ergebnisslos. So würde kaum innerhalb der Poetik ein gleich <lb n="pdi_333.003"/> günstiges Ergebniss als innerhalb der Grammatik erreicht werden <lb n="pdi_333.004"/> können, wollte man an das Muster der Letzteren sich halten und <lb n="pdi_333.005"/> bei der äusseren empirischen Beobachtung und der gegenseitigen <lb n="pdi_333.006"/> Erhellung eines ursächlichen Zusammenhangs durch einen anderen <lb n="pdi_333.007"/> verwandten, der Verallgemeinerung durch Vergleichung und der <lb n="pdi_333.008"/> physiologischen Begründung stehen bleiben. Wir müssen versuchen, <lb n="pdi_333.009"/> durch solche Hilfsmittel soweit als möglich zu kommen; <lb n="pdi_333.010"/> aber die folgenden Gründe bestimmen uns, den Kreis dieser <lb n="pdi_333.011"/> Hilfsmittel und Methoden zu überschreiten.</p> <lb n="pdi_333.012"/> <p> Der Grammatiker findet die Sprache als ein fertiges System <lb n="pdi_333.013"/> vor, in welchem so langsam die Veränderungen stattfinden, dass <lb n="pdi_333.014"/> sie sich der directen Auffassung durch Beobachtung entziehen. Die <lb n="pdi_333.015"/> hervorbringenden Kräfte in dem sprachbildenden Vorgang sind <lb n="pdi_333.016"/> zwar dieselben, welche im Seelenleben überhaupt aufgefasst werden <lb n="pdi_333.017"/> können, aber ihre Beziehung zu dem Sprachvorgang wird durchweg <lb n="pdi_333.018"/> nicht erlebt, sondern durch Schlüsse gewonnen; hierin ist <lb n="pdi_333.019"/> die Verwandtschaft der Methode der Sprachforschung mit der <lb n="pdi_333.020"/> Methode der Naturwissenschaft begründet. Dagegen der lebendige <lb n="pdi_333.021"/> Vorgang, in welchem die Dichtung entspringt, kann von <lb n="pdi_333.022"/> dem Keim einer solchen bis zu ihrer vollendeten Gestalt an dem <lb n="pdi_333.023"/> heute lebenden Dichter beobachtet werden. Und jeder Mensch <lb n="pdi_333.024"/> von grösserer dichterischer Lebendigkeit ist im Stande, ihn ganz <lb n="pdi_333.025"/> nachzufühlen. Hierzu kommen die Selbstzeugnisse der Dichter <lb n="pdi_333.026"/> über den Vorgang des Schaffens in ihnen, die literarischen Denkmale, <lb n="pdi_333.027"/> welche uns gleichsam die Lebensgeschichte, in welcher hervorragende <lb n="pdi_333.028"/> Dichtungen sich entfalteten, festzustellen gestatten. <lb n="pdi_333.029"/> Weiter aber sind dann die Erzeugnisse dieser Vorgänge in einer <lb n="pdi_333.030"/> ungeheuren, beinahe unübersehbaren Literaturmasse erhalten und <lb n="pdi_333.031"/> sie tragen eine Eigenschaft an sich, welche sie neben den <lb n="pdi_333.032"/> Werken der Prosa besonders für die Causaluntersuchung geeignet <lb n="pdi_333.033"/> macht. Durchsichtig pulsirt gleichsam das schaffende <lb n="pdi_333.034"/> Leben, das sie hervorbrachte, in den dichterischen Werken. <lb n="pdi_333.035"/> Vielfach kann noch in ihrer Gestalt das Gesetz ihrer Bildung <lb n="pdi_333.036"/> erfasst werden. Indem nun unsre Beobachtungen über dichterisches </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [333/0035]
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Theorien der Hallucination gemacht haben, finden wir vorläufig pdi_333.002
noch ergebnisslos. So würde kaum innerhalb der Poetik ein gleich pdi_333.003
günstiges Ergebniss als innerhalb der Grammatik erreicht werden pdi_333.004
können, wollte man an das Muster der Letzteren sich halten und pdi_333.005
bei der äusseren empirischen Beobachtung und der gegenseitigen pdi_333.006
Erhellung eines ursächlichen Zusammenhangs durch einen anderen pdi_333.007
verwandten, der Verallgemeinerung durch Vergleichung und der pdi_333.008
physiologischen Begründung stehen bleiben. Wir müssen versuchen, pdi_333.009
durch solche Hilfsmittel soweit als möglich zu kommen; pdi_333.010
aber die folgenden Gründe bestimmen uns, den Kreis dieser pdi_333.011
Hilfsmittel und Methoden zu überschreiten.
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Der Grammatiker findet die Sprache als ein fertiges System pdi_333.013
vor, in welchem so langsam die Veränderungen stattfinden, dass pdi_333.014
sie sich der directen Auffassung durch Beobachtung entziehen. Die pdi_333.015
hervorbringenden Kräfte in dem sprachbildenden Vorgang sind pdi_333.016
zwar dieselben, welche im Seelenleben überhaupt aufgefasst werden pdi_333.017
können, aber ihre Beziehung zu dem Sprachvorgang wird durchweg pdi_333.018
nicht erlebt, sondern durch Schlüsse gewonnen; hierin ist pdi_333.019
die Verwandtschaft der Methode der Sprachforschung mit der pdi_333.020
Methode der Naturwissenschaft begründet. Dagegen der lebendige pdi_333.021
Vorgang, in welchem die Dichtung entspringt, kann von pdi_333.022
dem Keim einer solchen bis zu ihrer vollendeten Gestalt an dem pdi_333.023
heute lebenden Dichter beobachtet werden. Und jeder Mensch pdi_333.024
von grösserer dichterischer Lebendigkeit ist im Stande, ihn ganz pdi_333.025
nachzufühlen. Hierzu kommen die Selbstzeugnisse der Dichter pdi_333.026
über den Vorgang des Schaffens in ihnen, die literarischen Denkmale, pdi_333.027
welche uns gleichsam die Lebensgeschichte, in welcher hervorragende pdi_333.028
Dichtungen sich entfalteten, festzustellen gestatten. pdi_333.029
Weiter aber sind dann die Erzeugnisse dieser Vorgänge in einer pdi_333.030
ungeheuren, beinahe unübersehbaren Literaturmasse erhalten und pdi_333.031
sie tragen eine Eigenschaft an sich, welche sie neben den pdi_333.032
Werken der Prosa besonders für die Causaluntersuchung geeignet pdi_333.033
macht. Durchsichtig pulsirt gleichsam das schaffende pdi_333.034
Leben, das sie hervorbrachte, in den dichterischen Werken. pdi_333.035
Vielfach kann noch in ihrer Gestalt das Gesetz ihrer Bildung pdi_333.036
erfasst werden. Indem nun unsre Beobachtungen über dichterisches
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