Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_331.001
erkennen anleitete, helfen können. Da diese mangelte, wurde pdi_331.002
die Uebersicht dieser Seelenzustände nur in genialer Anschauung pdi_331.003
oder durch eine willkürliche Methode hergestellt. Dies geht von pdi_331.004
der Art, wie Schiller naive und sentimentale Dichtung gegeneinander pdi_331.005
absetzte, bis zu der, in welcher die Aesthetik der pdi_331.006
Hegel'schen Schule durch eine äusserliche Dialektik die dichterischen pdi_331.007
Seelenzustände in Beziehungen zu einander brachte.

pdi_331.008
3. Probleme und Hilfsmittel einer heutigen pdi_331.009
Poetik.
pdi_331.010

Die Aufgabe entsteht, die Probleme, welche jene Zeit pdi_331.011
ästhetischer Speculation bearbeitete, in den Zusammenhang der pdi_331.012
modernen Erfahrungswissenschaft zu stellen, den sehr grossen pdi_331.013
Reichthum genialer Beobachtungen und Verallgemeinerungen, pdi_331.014
den sie aufgehäuft hat, in dem Geiste dieser empirischen Forschung pdi_331.015
zu verwerthen und den Ertrag der technischen Poetik in ein pdi_331.016
wissenschaftliches Verhältniss zu dem der ästhetischen Speculation pdi_331.017
zu setzen. Welche Hilfsmittel und Methoden stehen uns pdi_331.018
dazu zur Verfügung?

pdi_331.019

Die Poetik, zurückgeblieben in empirischer Causalerkenntniss pdi_331.020
wie sie ist, wird zunächst von den verwandten Wissenschaften pdi_331.021
in Bezug auf ihre Methoden und Hilfsmittel zu pdi_331.022
lernen suchen.

pdi_331.023

Die nächstverwandte Wissenschaft, die Rhetorik, ist leider pdi_331.024
auf dem Standpunkt stehen geblieben, den sie im Alterthum erreicht pdi_331.025
hatte. Sie ist eine elementare Formenlehre und Technik. pdi_331.026
Sie hat noch keinen Schritt gethan, der Causalerkenntniss sich pdi_331.027
anzunähern. Und doch wäre sie sowohl in dem eingeschränkten pdi_331.028
Verstande der Alten als in dem weiteren einer Theorie der pdi_331.029
prosaischen, d. h. Beweis und Ueberzeugung bezweckenden Rede pdi_331.030
für die Philologie und die Praxis des Lebens nützlich. Die pdi_331.031
Hilfsmittel, welche neben der Grammatik und Metrik der Sinn pdi_331.032
für logischen Zusammenhang und die ästhetische Feinfühligkeit pdi_331.033
der Philologie gewähren, sind nahezu erschöpft. So wird erst pdi_331.034
auf dem Wege der Vergleichung und psychologischen Begründung

pdi_331.001
erkennen anleitete, helfen können. Da diese mangelte, wurde pdi_331.002
die Uebersicht dieser Seelenzustände nur in genialer Anschauung pdi_331.003
oder durch eine willkürliche Methode hergestellt. Dies geht von pdi_331.004
der Art, wie Schiller naive und sentimentale Dichtung gegeneinander pdi_331.005
absetzte, bis zu der, in welcher die Aesthetik der pdi_331.006
Hegel'schen Schule durch eine äusserliche Dialektik die dichterischen pdi_331.007
Seelenzustände in Beziehungen zu einander brachte.

pdi_331.008
3. Probleme und Hilfsmittel einer heutigen pdi_331.009
Poetik.
pdi_331.010

  Die Aufgabe entsteht, die Probleme, welche jene Zeit pdi_331.011
ästhetischer Speculation bearbeitete, in den Zusammenhang der pdi_331.012
modernen Erfahrungswissenschaft zu stellen, den sehr grossen pdi_331.013
Reichthum genialer Beobachtungen und Verallgemeinerungen, pdi_331.014
den sie aufgehäuft hat, in dem Geiste dieser empirischen Forschung pdi_331.015
zu verwerthen und den Ertrag der technischen Poetik in ein pdi_331.016
wissenschaftliches Verhältniss zu dem der ästhetischen Speculation pdi_331.017
zu setzen. Welche Hilfsmittel und Methoden stehen uns pdi_331.018
dazu zur Verfügung?

pdi_331.019

  Die Poetik, zurückgeblieben in empirischer Causalerkenntniss pdi_331.020
wie sie ist, wird zunächst von den verwandten Wissenschaften pdi_331.021
in Bezug auf ihre Methoden und Hilfsmittel zu pdi_331.022
lernen suchen.

pdi_331.023

  Die nächstverwandte Wissenschaft, die Rhetorik, ist leider pdi_331.024
auf dem Standpunkt stehen geblieben, den sie im Alterthum erreicht pdi_331.025
hatte. Sie ist eine elementare Formenlehre und Technik. pdi_331.026
Sie hat noch keinen Schritt gethan, der Causalerkenntniss sich pdi_331.027
anzunähern. Und doch wäre sie sowohl in dem eingeschränkten pdi_331.028
Verstande der Alten als in dem weiteren einer Theorie der pdi_331.029
prosaischen, d. h. Beweis und Ueberzeugung bezweckenden Rede pdi_331.030
für die Philologie und die Praxis des Lebens nützlich. Die pdi_331.031
Hilfsmittel, welche neben der Grammatik und Metrik der Sinn pdi_331.032
für logischen Zusammenhang und die ästhetische Feinfühligkeit pdi_331.033
der Philologie gewähren, sind nahezu erschöpft. So wird erst pdi_331.034
auf dem Wege der Vergleichung und psychologischen Begründung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="331"/><lb n="pdi_331.001"/>
erkennen anleitete, helfen können. Da diese mangelte, wurde <lb n="pdi_331.002"/>
die Uebersicht dieser Seelenzustände nur in genialer Anschauung <lb n="pdi_331.003"/>
oder durch eine willkürliche Methode hergestellt. Dies geht von <lb n="pdi_331.004"/>
der Art, wie Schiller naive und sentimentale Dichtung gegeneinander <lb n="pdi_331.005"/>
absetzte, bis zu der, in welcher die Aesthetik der <lb n="pdi_331.006"/>
Hegel'schen Schule durch eine äusserliche Dialektik die dichterischen <lb n="pdi_331.007"/>
Seelenzustände in Beziehungen zu einander brachte.</p>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="pdi_331.008"/>
          <head> <hi rendition="#c">3. <hi rendition="#g">Probleme und Hilfsmittel einer heutigen <lb n="pdi_331.009"/>
Poetik.</hi></hi> </head>
          <lb n="pdi_331.010"/>
          <p>  Die Aufgabe entsteht, die Probleme, welche jene Zeit <lb n="pdi_331.011"/>
ästhetischer Speculation bearbeitete, in den Zusammenhang der <lb n="pdi_331.012"/>
modernen Erfahrungswissenschaft zu stellen, den sehr grossen <lb n="pdi_331.013"/>
Reichthum genialer Beobachtungen und Verallgemeinerungen, <lb n="pdi_331.014"/>
den sie aufgehäuft hat, in dem Geiste dieser empirischen Forschung <lb n="pdi_331.015"/>
zu verwerthen und den Ertrag der technischen Poetik in ein <lb n="pdi_331.016"/>
wissenschaftliches Verhältniss zu dem der ästhetischen Speculation <lb n="pdi_331.017"/>
zu setzen. Welche Hilfsmittel und Methoden stehen uns <lb n="pdi_331.018"/>
dazu zur Verfügung?</p>
          <lb n="pdi_331.019"/>
          <p>  Die Poetik, zurückgeblieben in empirischer Causalerkenntniss <lb n="pdi_331.020"/>
wie sie ist, wird zunächst von den <hi rendition="#g">verwandten Wissenschaften</hi> <lb n="pdi_331.021"/>
in Bezug auf ihre Methoden und Hilfsmittel zu <lb n="pdi_331.022"/>
lernen suchen.</p>
          <lb n="pdi_331.023"/>
          <p>  Die nächstverwandte Wissenschaft, die <hi rendition="#g">Rhetorik,</hi> ist leider <lb n="pdi_331.024"/>
auf dem Standpunkt stehen geblieben, den sie im Alterthum erreicht <lb n="pdi_331.025"/>
hatte. Sie ist eine elementare Formenlehre und Technik. <lb n="pdi_331.026"/>
Sie hat noch keinen Schritt gethan, der Causalerkenntniss sich <lb n="pdi_331.027"/>
anzunähern. Und doch wäre sie sowohl in dem eingeschränkten <lb n="pdi_331.028"/>
Verstande der Alten als in dem weiteren einer Theorie der <lb n="pdi_331.029"/>
prosaischen, d. h. Beweis und Ueberzeugung bezweckenden Rede <lb n="pdi_331.030"/>
für die Philologie und die Praxis des Lebens nützlich. Die <lb n="pdi_331.031"/>
Hilfsmittel, welche neben der Grammatik und Metrik der Sinn <lb n="pdi_331.032"/>
für logischen Zusammenhang und die ästhetische Feinfühligkeit <lb n="pdi_331.033"/>
der Philologie gewähren, sind nahezu erschöpft. So wird erst <lb n="pdi_331.034"/>
auf dem Wege der Vergleichung und psychologischen Begründung
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[331/0033] pdi_331.001 erkennen anleitete, helfen können. Da diese mangelte, wurde pdi_331.002 die Uebersicht dieser Seelenzustände nur in genialer Anschauung pdi_331.003 oder durch eine willkürliche Methode hergestellt. Dies geht von pdi_331.004 der Art, wie Schiller naive und sentimentale Dichtung gegeneinander pdi_331.005 absetzte, bis zu der, in welcher die Aesthetik der pdi_331.006 Hegel'schen Schule durch eine äusserliche Dialektik die dichterischen pdi_331.007 Seelenzustände in Beziehungen zu einander brachte. pdi_331.008 3. Probleme und Hilfsmittel einer heutigen pdi_331.009 Poetik. pdi_331.010   Die Aufgabe entsteht, die Probleme, welche jene Zeit pdi_331.011 ästhetischer Speculation bearbeitete, in den Zusammenhang der pdi_331.012 modernen Erfahrungswissenschaft zu stellen, den sehr grossen pdi_331.013 Reichthum genialer Beobachtungen und Verallgemeinerungen, pdi_331.014 den sie aufgehäuft hat, in dem Geiste dieser empirischen Forschung pdi_331.015 zu verwerthen und den Ertrag der technischen Poetik in ein pdi_331.016 wissenschaftliches Verhältniss zu dem der ästhetischen Speculation pdi_331.017 zu setzen. Welche Hilfsmittel und Methoden stehen uns pdi_331.018 dazu zur Verfügung? pdi_331.019   Die Poetik, zurückgeblieben in empirischer Causalerkenntniss pdi_331.020 wie sie ist, wird zunächst von den verwandten Wissenschaften pdi_331.021 in Bezug auf ihre Methoden und Hilfsmittel zu pdi_331.022 lernen suchen. pdi_331.023   Die nächstverwandte Wissenschaft, die Rhetorik, ist leider pdi_331.024 auf dem Standpunkt stehen geblieben, den sie im Alterthum erreicht pdi_331.025 hatte. Sie ist eine elementare Formenlehre und Technik. pdi_331.026 Sie hat noch keinen Schritt gethan, der Causalerkenntniss sich pdi_331.027 anzunähern. Und doch wäre sie sowohl in dem eingeschränkten pdi_331.028 Verstande der Alten als in dem weiteren einer Theorie der pdi_331.029 prosaischen, d. h. Beweis und Ueberzeugung bezweckenden Rede pdi_331.030 für die Philologie und die Praxis des Lebens nützlich. Die pdi_331.031 Hilfsmittel, welche neben der Grammatik und Metrik der Sinn pdi_331.032 für logischen Zusammenhang und die ästhetische Feinfühligkeit pdi_331.033 der Philologie gewähren, sind nahezu erschöpft. So wird erst pdi_331.034 auf dem Wege der Vergleichung und psychologischen Begründung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/33
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/33>, abgerufen am 23.11.2024.