Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_318.001 Ja das Erbgut dieser Poetik ist nicht nur durch Lessing, pdi_318.028 pdi_318.001 Ja das Erbgut dieser Poetik ist nicht nur durch Lessing, pdi_318.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0020" n="318"/><lb n="pdi_318.001"/> an die Erfahrung hält und dadurch, wenn man will, ein wenig zu <lb n="pdi_318.002"/> materiell wird, dabei aber auch meistens desto solider auftritt.“ <lb n="pdi_318.003"/> Und Schiller in seiner Antwort vom 5. Mai 1797 ist ebenfalls mit <lb n="pdi_318.004"/> Aristoteles sehr zufrieden und freut sich seines Einverständnisses <lb n="pdi_318.005"/> mit demselben. Er bemerkt mit feinem Spürsinn, wie hier keine <lb n="pdi_318.006"/> Philosophie der Dichtkunst nach Art moderner Aesthetiker vorliege, <lb n="pdi_318.007"/> sondern Auffassung „der Elemente, aus welchen ein Dichtwerk <lb n="pdi_318.008"/> zusammengesetzt wird“, wie sie entstehen müsste, wenn <lb n="pdi_318.009"/> man „eine individuelle Tragödie vor sich hätte und sich um alle <lb n="pdi_318.010"/> Momente befragte, die an ihr in Betrachtung kommen“. „Ganz <lb n="pdi_318.011"/> kann er aber sicherlich nie verstanden oder gewürdigt werden. <lb n="pdi_318.012"/> Seine ganze Ansicht des Trauerspiels beruhte auf empirischen <lb n="pdi_318.013"/> Gründen: er hat eine Masse vorgestellter Tragödien vor Augen, <lb n="pdi_318.014"/> die wir nicht mehr vor Augen haben; aus dieser Erfahrung heraus <lb n="pdi_318.015"/> raisonnirt er; uns fehlt grösstentheils die ganze Basis seines <lb n="pdi_318.016"/> Urtheils.“ Das ist richtig gesehen und hätte Schiller dahin führen <lb n="pdi_318.017"/> können, hinter Aristoteles den technischen Erwerb des griechischen <lb n="pdi_318.018"/> Künstlers, Erklärers und Kunstrichters zu erblicken. Liest <lb n="pdi_318.019"/> man weiter, so bemerkt man, wie Schiller hier Parthei ist und <lb n="pdi_318.020"/> sein Urtheil über Aristoteles günstiger, als unser heutiges lauten <lb n="pdi_318.021"/> muss. „Und wenn seine Urtheile .. ächte Kunstgesetzte sind, so <lb n="pdi_318.022"/> haben wir dieses dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es damals <lb n="pdi_318.023"/> Kunstwerke gab, die .. ihre Gattung in einem individuellen <lb n="pdi_318.024"/> Fall vorstellig machten.“ Das ist ganz die bekannte ungeschichtliche <lb n="pdi_318.025"/> Vorstellung von der Idee, die sich in einem Falle realisirt, <lb n="pdi_318.026"/> der Gattung, die in einem Exemplar zur Darstellung kommt!</p> <lb n="pdi_318.027"/> <p> Ja das Erbgut dieser Poetik ist nicht nur durch Lessing, <lb n="pdi_318.028"/> sondern auch durch Goethe und Schiller erheblich vergrössert <lb n="pdi_318.029"/> worden. Lessing hatte mit Aristoteles aus dem Verhältniss der <lb n="pdi_318.030"/> Darstellungsmittel zu der durch sie bedingten Technik die obersten <lb n="pdi_318.031"/> Gesetze der bildenden Kunst und weit glücklicher die der <lb n="pdi_318.032"/> Poesie abgeleitet. Er hatte gegenüber den Franzosen die wahre <lb n="pdi_318.033"/> Einheit der dramatischen Handlung in mustergültiger Analysis <lb n="pdi_318.034"/> dargestellt, einstimmig mit dem Aristotelischen Text, aber zugleich <lb n="pdi_318.035"/> von seinem dramatischen Lebensgefühl getragen. Goethe <lb n="pdi_318.036"/> hat dann aus der Verschiedenheit der ganzen Position des epischen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [318/0020]
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an die Erfahrung hält und dadurch, wenn man will, ein wenig zu pdi_318.002
materiell wird, dabei aber auch meistens desto solider auftritt.“ pdi_318.003
Und Schiller in seiner Antwort vom 5. Mai 1797 ist ebenfalls mit pdi_318.004
Aristoteles sehr zufrieden und freut sich seines Einverständnisses pdi_318.005
mit demselben. Er bemerkt mit feinem Spürsinn, wie hier keine pdi_318.006
Philosophie der Dichtkunst nach Art moderner Aesthetiker vorliege, pdi_318.007
sondern Auffassung „der Elemente, aus welchen ein Dichtwerk pdi_318.008
zusammengesetzt wird“, wie sie entstehen müsste, wenn pdi_318.009
man „eine individuelle Tragödie vor sich hätte und sich um alle pdi_318.010
Momente befragte, die an ihr in Betrachtung kommen“. „Ganz pdi_318.011
kann er aber sicherlich nie verstanden oder gewürdigt werden. pdi_318.012
Seine ganze Ansicht des Trauerspiels beruhte auf empirischen pdi_318.013
Gründen: er hat eine Masse vorgestellter Tragödien vor Augen, pdi_318.014
die wir nicht mehr vor Augen haben; aus dieser Erfahrung heraus pdi_318.015
raisonnirt er; uns fehlt grösstentheils die ganze Basis seines pdi_318.016
Urtheils.“ Das ist richtig gesehen und hätte Schiller dahin führen pdi_318.017
können, hinter Aristoteles den technischen Erwerb des griechischen pdi_318.018
Künstlers, Erklärers und Kunstrichters zu erblicken. Liest pdi_318.019
man weiter, so bemerkt man, wie Schiller hier Parthei ist und pdi_318.020
sein Urtheil über Aristoteles günstiger, als unser heutiges lauten pdi_318.021
muss. „Und wenn seine Urtheile .. ächte Kunstgesetzte sind, so pdi_318.022
haben wir dieses dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es damals pdi_318.023
Kunstwerke gab, die .. ihre Gattung in einem individuellen pdi_318.024
Fall vorstellig machten.“ Das ist ganz die bekannte ungeschichtliche pdi_318.025
Vorstellung von der Idee, die sich in einem Falle realisirt, pdi_318.026
der Gattung, die in einem Exemplar zur Darstellung kommt!
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Ja das Erbgut dieser Poetik ist nicht nur durch Lessing, pdi_318.028
sondern auch durch Goethe und Schiller erheblich vergrössert pdi_318.029
worden. Lessing hatte mit Aristoteles aus dem Verhältniss der pdi_318.030
Darstellungsmittel zu der durch sie bedingten Technik die obersten pdi_318.031
Gesetze der bildenden Kunst und weit glücklicher die der pdi_318.032
Poesie abgeleitet. Er hatte gegenüber den Franzosen die wahre pdi_318.033
Einheit der dramatischen Handlung in mustergültiger Analysis pdi_318.034
dargestellt, einstimmig mit dem Aristotelischen Text, aber zugleich pdi_318.035
von seinem dramatischen Lebensgefühl getragen. Goethe pdi_318.036
hat dann aus der Verschiedenheit der ganzen Position des epischen
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