Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_451.001 9. Indem alle genetischen Momente zusammenwirken, pdi_451.034 pdi_451.001 9. Indem alle genetischen Momente zusammenwirken, pdi_451.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0153" n="451"/><lb n="pdi_451.001"/> am Faust. Goethe lebte sammt seinen Genossen in dem <lb n="pdi_451.002"/> Glauben Rousseaus an die Autonomie der Person in der Totalität <lb n="pdi_451.003"/> ihrer Gemüthskräfte. So fand er in sich als Erlebniss das <lb n="pdi_451.004"/> Streben des Individuums nach unbegrenzter Entfaltung in Erkenntniss, <lb n="pdi_451.005"/> Genuss und Thätigkeit. Dies Streben war von dem <lb n="pdi_451.006"/> muthigen Glauben getragen, dass sich der Mensch „in seinem <lb n="pdi_451.007"/> dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst“ sei. Da <lb n="pdi_451.008"/> dieser Zustand aus der geistigen Lage der Zeit entsprungen war, <lb n="pdi_451.009"/> hatte er eine ausserordentlich starke Erregungskraft und etwas <lb n="pdi_451.010"/> Allgemeingültiges. Nun fand Goethe das Symbol für ihn in der <lb n="pdi_451.011"/> Faustsage: ein Gefäss, das allen Drang und Sturm, alle Leiden und <lb n="pdi_451.012"/> Freuden jener Tage in sich aufnehmen konnte. Dieser dunkelhelle, <lb n="pdi_451.013"/> partikular-allgemeine Gehalt entfaltete sich nur mit Goethes <lb n="pdi_451.014"/> Leben selber, da ja das Leben den Gegenstand ausmachte. Der <lb n="pdi_451.015"/> Dichter erfuhr nach einander den ungestümen Drang der Jugendtage <lb n="pdi_451.016"/> sowie die in ihm liegenden furchtbaren Gefahren; dann in <lb n="pdi_451.017"/> Weimar die Reinigung des Herzens durch die Anschauung und durch <lb n="pdi_451.018"/> den Besitz der Welt im Anschauen allein: jene cognitio intuitiva und <lb n="pdi_451.019"/> jenen amor dei intellectualis Spinozas auf dem Grunde der Resignation, <lb n="pdi_451.020"/> welche in dem Poeten zugleich künstlerisches Betrachten <lb n="pdi_451.021"/> waren. Aus der ästhetischen Erziehung erhob sich ihm dann die <lb n="pdi_451.022"/> Kraft zu einer reinen ins Ganze gehenden Thätigkeit. Es ist sein <lb n="pdi_451.023"/> und Schillers Ideal menschlicher Entfaltung, aus den tiefsten <lb n="pdi_451.024"/> Erfahrungen des eigenen Herzens geschöpft, was so den Gang <lb n="pdi_451.025"/> des Faustgedichtes bestimmt hat. Nun sind mannigfache Motive <lb n="pdi_451.026"/> in der Faustsage enthalten gewesen, und andere wurden von <lb n="pdi_451.027"/> Goethe hinzugedichtet. So erhält die Bedeutsamkeit des Erlebnisses <lb n="pdi_451.028"/> gleichsam ihre <hi rendition="#g">Articulation.</hi> Aber wieder sehen wir <lb n="pdi_451.029"/> an diesem Punkte, dass eine grosse Dichtung in ihrem Kern <lb n="pdi_451.030"/> irrational, incommensurabel ist wie das Leben selber, welches <lb n="pdi_451.031"/> sie darstellt. Und das hat Goethe vom Faust ausdrücklich <lb n="pdi_451.032"/> gesagt.</p> <lb n="pdi_451.033"/> <p> 9. Indem alle genetischen Momente zusammenwirken, <lb n="pdi_451.034"/> entsteht in beständigen Umbildungen ein Gefüge der Dichtung, <lb n="pdi_451.035"/> welches gleichsam vor den Augen des Poeten steht, ehe er die <lb n="pdi_451.036"/> Einzelausführung beginnen kann. Die aristotelische Poetik bezeichnet </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [451/0153]
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am Faust. Goethe lebte sammt seinen Genossen in dem pdi_451.002
Glauben Rousseaus an die Autonomie der Person in der Totalität pdi_451.003
ihrer Gemüthskräfte. So fand er in sich als Erlebniss das pdi_451.004
Streben des Individuums nach unbegrenzter Entfaltung in Erkenntniss, pdi_451.005
Genuss und Thätigkeit. Dies Streben war von dem pdi_451.006
muthigen Glauben getragen, dass sich der Mensch „in seinem pdi_451.007
dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst“ sei. Da pdi_451.008
dieser Zustand aus der geistigen Lage der Zeit entsprungen war, pdi_451.009
hatte er eine ausserordentlich starke Erregungskraft und etwas pdi_451.010
Allgemeingültiges. Nun fand Goethe das Symbol für ihn in der pdi_451.011
Faustsage: ein Gefäss, das allen Drang und Sturm, alle Leiden und pdi_451.012
Freuden jener Tage in sich aufnehmen konnte. Dieser dunkelhelle, pdi_451.013
partikular-allgemeine Gehalt entfaltete sich nur mit Goethes pdi_451.014
Leben selber, da ja das Leben den Gegenstand ausmachte. Der pdi_451.015
Dichter erfuhr nach einander den ungestümen Drang der Jugendtage pdi_451.016
sowie die in ihm liegenden furchtbaren Gefahren; dann in pdi_451.017
Weimar die Reinigung des Herzens durch die Anschauung und durch pdi_451.018
den Besitz der Welt im Anschauen allein: jene cognitio intuitiva und pdi_451.019
jenen amor dei intellectualis Spinozas auf dem Grunde der Resignation, pdi_451.020
welche in dem Poeten zugleich künstlerisches Betrachten pdi_451.021
waren. Aus der ästhetischen Erziehung erhob sich ihm dann die pdi_451.022
Kraft zu einer reinen ins Ganze gehenden Thätigkeit. Es ist sein pdi_451.023
und Schillers Ideal menschlicher Entfaltung, aus den tiefsten pdi_451.024
Erfahrungen des eigenen Herzens geschöpft, was so den Gang pdi_451.025
des Faustgedichtes bestimmt hat. Nun sind mannigfache Motive pdi_451.026
in der Faustsage enthalten gewesen, und andere wurden von pdi_451.027
Goethe hinzugedichtet. So erhält die Bedeutsamkeit des Erlebnisses pdi_451.028
gleichsam ihre Articulation. Aber wieder sehen wir pdi_451.029
an diesem Punkte, dass eine grosse Dichtung in ihrem Kern pdi_451.030
irrational, incommensurabel ist wie das Leben selber, welches pdi_451.031
sie darstellt. Und das hat Goethe vom Faust ausdrücklich pdi_451.032
gesagt.
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9. Indem alle genetischen Momente zusammenwirken, pdi_451.034
entsteht in beständigen Umbildungen ein Gefüge der Dichtung, pdi_451.035
welches gleichsam vor den Augen des Poeten steht, ehe er die pdi_451.036
Einzelausführung beginnen kann. Die aristotelische Poetik bezeichnet
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