Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_312.001 So gelangen wir zur selben Grundfrage, nur in historischer pdi_312.004 Vielleicht hat die Poetik in Rücksicht auf das Studium pdi_312.014 Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine pdi_312.033 pdi_312.001 So gelangen wir zur selben Grundfrage, nur in historischer pdi_312.004 Vielleicht hat die Poetik in Rücksicht auf das Studium pdi_312.014 Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine pdi_312.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0014" n="312"/><lb n="pdi_312.001"/> derselben zu den allgemeinen Gesetzen der Dichtung <lb n="pdi_312.002"/> führt sie nothwendig zu den Principien der Poetik.</p> <lb n="pdi_312.003"/> <p> So gelangen wir zur selben Grundfrage, nur in historischer <lb n="pdi_312.004"/> Wendung. Können wir erkennen, wie die in der Natur des Menschen <lb n="pdi_312.005"/> gegründeten, sonach überall wirkenden Vorgänge diese verschiedenen <lb n="pdi_312.006"/> Gruppen von Poesie, getrennt nach Völkern und Zeiten, <lb n="pdi_312.007"/> hervorbringen? Hier berühren wir die tiefste Thatsache der <lb n="pdi_312.008"/> Geisteswissenschaften: die Geschichtlichkeit des Seelenlebens, <lb n="pdi_312.009"/> sich äussernd in jedem System der Kultur, das die Menschheit <lb n="pdi_312.010"/> hervorbringt. Wie ist die hier in den Gleichförmigkeiten sich <lb n="pdi_312.011"/> äussernde Selbigkeit unseres menschlichen Wesens verknüpft mit <lb n="pdi_312.012"/> seiner Variabilität, seinem geschichtlichen Wesen?</p> <lb n="pdi_312.013"/> <p> Vielleicht hat die Poetik in Rücksicht auf das Studium <lb n="pdi_312.014"/> dieser Grundthatsache der Geisteswissenschaften, der Geschichtlichkeit <lb n="pdi_312.015"/> der freien Menschennatur, einen grossen Vorzug vor <lb n="pdi_312.016"/> den Theorien der Religion oder Sittlichkeit etc. voraus. Auf <lb n="pdi_312.017"/> keinem anderen Gebiet, ausser dem der Wissenschaft, haben <lb n="pdi_312.018"/> sich so vollständig die Erzeugnisse der Vorgänge erhalten; sie <lb n="pdi_312.019"/> liegen in der schönen Literatur aufeinandergeschichtet da. Die <lb n="pdi_312.020"/> wirkenden Kräfte scheinen noch lebendig in dem Erzeugniss zu <lb n="pdi_312.021"/> pulsiren. Die Vorgänge vollziehen sich heute, wie zu jeder <lb n="pdi_312.022"/> früheren Zeit; der Dichter lebt vor unseren Augen, Zeugnisse <lb n="pdi_312.023"/> über sein Schaffen liegen vor. So kann das dichterische <lb n="pdi_312.024"/> Bilden, seine psychologische Structur und seine geschichtliche <lb n="pdi_312.025"/> Variabilität besonders gut studirt werden. Die Hoffnung <lb n="pdi_312.026"/> entsteht, dass durch die Poetik das Wirken der psychologischen <lb n="pdi_312.027"/> Vorgänge in den geschichtlichen Producten besonders genau aufgeklärt <lb n="pdi_312.028"/> werden könne. An der Litteraturgeschichte entfaltete <lb n="pdi_312.029"/> sich bei uns die philosophische Geschichtsbetrachtung. Die <lb n="pdi_312.030"/> Poetik hat vielleicht eine ähnliche Bedeutung für das systematische <lb n="pdi_312.031"/> Studium der geschichtlichen Lebensäusserungen.</p> <lb n="pdi_312.032"/> <p> Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine <lb n="pdi_312.033"/> nicht zu unterschätzende practische Bedeutung für unser höheres <lb n="pdi_312.034"/> Unterrichtswesen haben. Die älteren Gelehrtenschulen vor der <lb n="pdi_312.035"/> Umwälzung unserer Philologie durch Humboldts und Wolfs Auffassung <lb n="pdi_312.036"/> der Griechen unter dem Gesichtspunkte des Humanitätsideals </p> </div> </body> </text> </TEI> [312/0014]
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derselben zu den allgemeinen Gesetzen der Dichtung pdi_312.002
führt sie nothwendig zu den Principien der Poetik.
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So gelangen wir zur selben Grundfrage, nur in historischer pdi_312.004
Wendung. Können wir erkennen, wie die in der Natur des Menschen pdi_312.005
gegründeten, sonach überall wirkenden Vorgänge diese verschiedenen pdi_312.006
Gruppen von Poesie, getrennt nach Völkern und Zeiten, pdi_312.007
hervorbringen? Hier berühren wir die tiefste Thatsache der pdi_312.008
Geisteswissenschaften: die Geschichtlichkeit des Seelenlebens, pdi_312.009
sich äussernd in jedem System der Kultur, das die Menschheit pdi_312.010
hervorbringt. Wie ist die hier in den Gleichförmigkeiten sich pdi_312.011
äussernde Selbigkeit unseres menschlichen Wesens verknüpft mit pdi_312.012
seiner Variabilität, seinem geschichtlichen Wesen?
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Vielleicht hat die Poetik in Rücksicht auf das Studium pdi_312.014
dieser Grundthatsache der Geisteswissenschaften, der Geschichtlichkeit pdi_312.015
der freien Menschennatur, einen grossen Vorzug vor pdi_312.016
den Theorien der Religion oder Sittlichkeit etc. voraus. Auf pdi_312.017
keinem anderen Gebiet, ausser dem der Wissenschaft, haben pdi_312.018
sich so vollständig die Erzeugnisse der Vorgänge erhalten; sie pdi_312.019
liegen in der schönen Literatur aufeinandergeschichtet da. Die pdi_312.020
wirkenden Kräfte scheinen noch lebendig in dem Erzeugniss zu pdi_312.021
pulsiren. Die Vorgänge vollziehen sich heute, wie zu jeder pdi_312.022
früheren Zeit; der Dichter lebt vor unseren Augen, Zeugnisse pdi_312.023
über sein Schaffen liegen vor. So kann das dichterische pdi_312.024
Bilden, seine psychologische Structur und seine geschichtliche pdi_312.025
Variabilität besonders gut studirt werden. Die Hoffnung pdi_312.026
entsteht, dass durch die Poetik das Wirken der psychologischen pdi_312.027
Vorgänge in den geschichtlichen Producten besonders genau aufgeklärt pdi_312.028
werden könne. An der Litteraturgeschichte entfaltete pdi_312.029
sich bei uns die philosophische Geschichtsbetrachtung. Die pdi_312.030
Poetik hat vielleicht eine ähnliche Bedeutung für das systematische pdi_312.031
Studium der geschichtlichen Lebensäusserungen.
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Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine pdi_312.033
nicht zu unterschätzende practische Bedeutung für unser höheres pdi_312.034
Unterrichtswesen haben. Die älteren Gelehrtenschulen vor der pdi_312.035
Umwälzung unserer Philologie durch Humboldts und Wolfs Auffassung pdi_312.036
der Griechen unter dem Gesichtspunkte des Humanitätsideals
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