Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_418.001 Es reicht hier aus, diesen Satz innerhalb des Gebietes der pdi_418.008 Der Vorgang, in welchem ich eine Tragödie oder ein pdi_418.010 pdi_418.001 Es reicht hier aus, diesen Satz innerhalb des Gebietes der pdi_418.008 Der Vorgang, in welchem ich eine Tragödie oder ein pdi_418.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0120" n="418"/><lb n="pdi_418.001"/> anderen die <hi rendition="#g">bildende</hi> Kunst. Die Eine selbige Menschennatur <lb n="pdi_418.002"/> lässt nach denselben Gesetzen schaffende Kunst und nachfühlenden <lb n="pdi_418.003"/> Geschmack entstehen, und beide einander entsprechen. <lb n="pdi_418.004"/> Zwar ist der Vorgang im Schaffenden viel mächtiger als im Geniessenden, <lb n="pdi_418.005"/> dazu vom Willen geleitet, aber er ist nach seinen <lb n="pdi_418.006"/> Bestandtheilen vorwiegend derselbe.</p> <lb n="pdi_418.007"/> <p> Es reicht hier aus, diesen Satz innerhalb des Gebietes der <lb n="pdi_418.008"/> Poesie näher zu entwickeln und zu begründen.</p> <lb n="pdi_418.009"/> <p> Der <hi rendition="#g">Vorgang,</hi> in welchem ich eine Tragödie oder ein <lb n="pdi_418.010"/> episches Werk <hi rendition="#g">aufnehme,</hi> ist ein lange dauernder und ausserordentlich <lb n="pdi_418.011"/> zusammengesetzter: <hi rendition="#g">Aggregat</hi> aus all den ästhetischen <lb n="pdi_418.012"/> Bestandtheilen, welche wir durchlaufen haben. Die Gefühle, <lb n="pdi_418.013"/> welche hier verbunden sind, gehören allen Gefühlskreisen <lb n="pdi_418.014"/> an. Und zwar enthält dieses Aggregat von Erregungszuständen <lb n="pdi_418.015"/> jedesmal neben den Gefühlen von Gefallen und Lust auch solche <lb n="pdi_418.016"/> von <hi rendition="#g">Unlust.</hi> Dies ist in allen ästhetischen Zusammensetzungen <lb n="pdi_418.017"/> grösseren Umfangs nothwendig. Denn eine Reihe von reinen Lusteindrücken <lb n="pdi_418.018"/> macht bald Langeweile. Und da die Poesie das <lb n="pdi_418.019"/> Leben abbildet, entsteht eine armselige Verwässerung desselben, <lb n="pdi_418.020"/> wenn man das grosse Agens der Lebens- und Willensbewegung, <lb n="pdi_418.021"/> den Schmerz, ausschaltet. Jedoch muss die <hi rendition="#g">Lust</hi> in diesem <lb n="pdi_418.022"/> Aggregat <hi rendition="#g">überwiegen</hi> und aus der schmerzlichen Erregung soll <lb n="pdi_418.023"/> der Hörer oder Leser schliesslich in eine Gleichgewichtslage <lb n="pdi_418.024"/> oder einen Lustzustand übergeführt werden. Alle Energien <lb n="pdi_418.025"/> der reichen menschlichen Natur müssen befriedigt sein. Unsere <lb n="pdi_418.026"/> Sinne sollen ausgefüllt werden durch den Gefühlsgehalt der <lb n="pdi_418.027"/> Empfindungen, sowie durch die aus ihren Beziehungen entspringenden <lb n="pdi_418.028"/> Stimmungen. Unsere höheren Gefühle müssen durch <lb n="pdi_418.029"/> die Bedeutsamkeit des Objects sich mächtig erweitert finden <lb n="pdi_418.030"/> und harmonisch ausklingen. Und unsere denkende Betrachtung <lb n="pdi_418.031"/> soll durch die Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit des <lb n="pdi_418.032"/> Gegenstandes, die Beziehungen desselben zu dem ganzen erworbenen <lb n="pdi_418.033"/> Zusammenhang des Seelenlebens und die so entstehende <lb n="pdi_418.034"/> Unendlichkeit des Horizontes, der das bedeutsame Object umgiebt, <lb n="pdi_418.035"/> ganz beschäftigt und festgehalten sein. Alsdann wird in <lb n="pdi_418.036"/> dem Werk kein Mangel empfunden. Jedes Bedürfniss ist ihm </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [418/0120]
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anderen die bildende Kunst. Die Eine selbige Menschennatur pdi_418.002
lässt nach denselben Gesetzen schaffende Kunst und nachfühlenden pdi_418.003
Geschmack entstehen, und beide einander entsprechen. pdi_418.004
Zwar ist der Vorgang im Schaffenden viel mächtiger als im Geniessenden, pdi_418.005
dazu vom Willen geleitet, aber er ist nach seinen pdi_418.006
Bestandtheilen vorwiegend derselbe.
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Es reicht hier aus, diesen Satz innerhalb des Gebietes der pdi_418.008
Poesie näher zu entwickeln und zu begründen.
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Der Vorgang, in welchem ich eine Tragödie oder ein pdi_418.010
episches Werk aufnehme, ist ein lange dauernder und ausserordentlich pdi_418.011
zusammengesetzter: Aggregat aus all den ästhetischen pdi_418.012
Bestandtheilen, welche wir durchlaufen haben. Die Gefühle, pdi_418.013
welche hier verbunden sind, gehören allen Gefühlskreisen pdi_418.014
an. Und zwar enthält dieses Aggregat von Erregungszuständen pdi_418.015
jedesmal neben den Gefühlen von Gefallen und Lust auch solche pdi_418.016
von Unlust. Dies ist in allen ästhetischen Zusammensetzungen pdi_418.017
grösseren Umfangs nothwendig. Denn eine Reihe von reinen Lusteindrücken pdi_418.018
macht bald Langeweile. Und da die Poesie das pdi_418.019
Leben abbildet, entsteht eine armselige Verwässerung desselben, pdi_418.020
wenn man das grosse Agens der Lebens- und Willensbewegung, pdi_418.021
den Schmerz, ausschaltet. Jedoch muss die Lust in diesem pdi_418.022
Aggregat überwiegen und aus der schmerzlichen Erregung soll pdi_418.023
der Hörer oder Leser schliesslich in eine Gleichgewichtslage pdi_418.024
oder einen Lustzustand übergeführt werden. Alle Energien pdi_418.025
der reichen menschlichen Natur müssen befriedigt sein. Unsere pdi_418.026
Sinne sollen ausgefüllt werden durch den Gefühlsgehalt der pdi_418.027
Empfindungen, sowie durch die aus ihren Beziehungen entspringenden pdi_418.028
Stimmungen. Unsere höheren Gefühle müssen durch pdi_418.029
die Bedeutsamkeit des Objects sich mächtig erweitert finden pdi_418.030
und harmonisch ausklingen. Und unsere denkende Betrachtung pdi_418.031
soll durch die Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit des pdi_418.032
Gegenstandes, die Beziehungen desselben zu dem ganzen erworbenen pdi_418.033
Zusammenhang des Seelenlebens und die so entstehende pdi_418.034
Unendlichkeit des Horizontes, der das bedeutsame Object umgiebt, pdi_418.035
ganz beschäftigt und festgehalten sein. Alsdann wird in pdi_418.036
dem Werk kein Mangel empfunden. Jedes Bedürfniss ist ihm
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