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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Grundzüge ihres Studiums.
durch die Thatsache, daß ich selber, der ich mich von innen erlebe
und kenne, ein Bestandtheil dieses gesellschaftlichen Körpers bin,
und daß die anderen Bestandtheile mir gleichartig und sonach
für mich ebenfalls in ihrem Inneren auffaßbar sind. Ich verstehe
das Leben der Gesellschaft. Das Individuum ist einerseits ein
Element in den Wechselwirkungen der Gesellschaft, ein Kreuzungs-
punkt der verschiedenen Systeme dieser Wechselwirkungen, in be-
wußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen
derselben reagirend, und es ist zugleich die dieses Alles anschauende
und erforschende Intelligenz. Das Spiel der für uns seelenlosen
wirkenden Ursachen wird hier abgelöst von dem der Vorstellungen,
Gefühle und Beweggründe. Und grenzenlos ist die Singularität,
der Reichthum im Spiel der Wechselwirkung, die hier sich auf-
thun. Der Wassersturz setzt sich aus homogenen stoßenden Wasser-
theilchen zusammen; aber ein einziger Satz, der doch nur ein
Hauch des Mundes ist, erschüttert die ganze beseelte Gesellschaft
eines Welttheils durch ein Spiel von Motiven in lauter indivi-
duellen Einheiten: so verschieden ist die hier auftretende Wechsel-
wirkung, nämlich das in der Vorstellung entspringende Motiv, von
jeder anderen Art von Ursache. Andere unterscheidende Grundzüge
folgen hieraus. Das auffassende Vermögen, welches in den Geistes-
wissenschaften wirkt, ist der ganze Mensch; große Leistungen in ihnen
gehen nicht von der bloßen Stärke der Intelligenz aus, sondern
von einer Mächtigkeit des persönlichen Lebens. Diese geistige
Thätigkeit findet sich, ohne jeden weiteren Zweck einer Erkenntniß
des Totalzusammenhangs von dem Singularen und Thatsäch-
lichen in dieser geistigen Welt angezogen und befriedigt, und
mit dem Auffassen ist für sie praktische Tendenz in Beurtheilung,
Ideal, Regel verbunden.

Aus diesen Grundverhältnissen ergiebt sich für das Individuum
der Gesellschaft gegenüber ein doppelter Ansatzpunkt seines Nach-
denkens. Es vollbringt seine Thätigkeit an diesem Ganzen mit Be-
wußtsein, bildet Regeln derselben, sucht Bedingungen derselben in
dem Zusammenhang der geistigen Welt. Andrerseits aber verhält
es sich als anschauende Intelligenz und möchte in seiner Er-

Grundzüge ihres Studiums.
durch die Thatſache, daß ich ſelber, der ich mich von innen erlebe
und kenne, ein Beſtandtheil dieſes geſellſchaftlichen Körpers bin,
und daß die anderen Beſtandtheile mir gleichartig und ſonach
für mich ebenfalls in ihrem Inneren auffaßbar ſind. Ich verſtehe
das Leben der Geſellſchaft. Das Individuum iſt einerſeits ein
Element in den Wechſelwirkungen der Geſellſchaft, ein Kreuzungs-
punkt der verſchiedenen Syſteme dieſer Wechſelwirkungen, in be-
wußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen
derſelben reagirend, und es iſt zugleich die dieſes Alles anſchauende
und erforſchende Intelligenz. Das Spiel der für uns ſeelenloſen
wirkenden Urſachen wird hier abgelöſt von dem der Vorſtellungen,
Gefühle und Beweggründe. Und grenzenlos iſt die Singularität,
der Reichthum im Spiel der Wechſelwirkung, die hier ſich auf-
thun. Der Waſſerſturz ſetzt ſich aus homogenen ſtoßenden Waſſer-
theilchen zuſammen; aber ein einziger Satz, der doch nur ein
Hauch des Mundes iſt, erſchüttert die ganze beſeelte Geſellſchaft
eines Welttheils durch ein Spiel von Motiven in lauter indivi-
duellen Einheiten: ſo verſchieden iſt die hier auftretende Wechſel-
wirkung, nämlich das in der Vorſtellung entſpringende Motiv, von
jeder anderen Art von Urſache. Andere unterſcheidende Grundzüge
folgen hieraus. Das auffaſſende Vermögen, welches in den Geiſtes-
wiſſenſchaften wirkt, iſt der ganze Menſch; große Leiſtungen in ihnen
gehen nicht von der bloßen Stärke der Intelligenz aus, ſondern
von einer Mächtigkeit des perſönlichen Lebens. Dieſe geiſtige
Thätigkeit findet ſich, ohne jeden weiteren Zweck einer Erkenntniß
des Totalzuſammenhangs von dem Singularen und Thatſäch-
lichen in dieſer geiſtigen Welt angezogen und befriedigt, und
mit dem Auffaſſen iſt für ſie praktiſche Tendenz in Beurtheilung,
Ideal, Regel verbunden.

Aus dieſen Grundverhältniſſen ergiebt ſich für das Individuum
der Geſellſchaft gegenüber ein doppelter Anſatzpunkt ſeines Nach-
denkens. Es vollbringt ſeine Thätigkeit an dieſem Ganzen mit Be-
wußtſein, bildet Regeln derſelben, ſucht Bedingungen derſelben in
dem Zuſammenhang der geiſtigen Welt. Andrerſeits aber verhält
es ſich als anſchauende Intelligenz und möchte in ſeiner Er-

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[47/0070] Grundzüge ihres Studiums. durch die Thatſache, daß ich ſelber, der ich mich von innen erlebe und kenne, ein Beſtandtheil dieſes geſellſchaftlichen Körpers bin, und daß die anderen Beſtandtheile mir gleichartig und ſonach für mich ebenfalls in ihrem Inneren auffaßbar ſind. Ich verſtehe das Leben der Geſellſchaft. Das Individuum iſt einerſeits ein Element in den Wechſelwirkungen der Geſellſchaft, ein Kreuzungs- punkt der verſchiedenen Syſteme dieſer Wechſelwirkungen, in be- wußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derſelben reagirend, und es iſt zugleich die dieſes Alles anſchauende und erforſchende Intelligenz. Das Spiel der für uns ſeelenloſen wirkenden Urſachen wird hier abgelöſt von dem der Vorſtellungen, Gefühle und Beweggründe. Und grenzenlos iſt die Singularität, der Reichthum im Spiel der Wechſelwirkung, die hier ſich auf- thun. Der Waſſerſturz ſetzt ſich aus homogenen ſtoßenden Waſſer- theilchen zuſammen; aber ein einziger Satz, der doch nur ein Hauch des Mundes iſt, erſchüttert die ganze beſeelte Geſellſchaft eines Welttheils durch ein Spiel von Motiven in lauter indivi- duellen Einheiten: ſo verſchieden iſt die hier auftretende Wechſel- wirkung, nämlich das in der Vorſtellung entſpringende Motiv, von jeder anderen Art von Urſache. Andere unterſcheidende Grundzüge folgen hieraus. Das auffaſſende Vermögen, welches in den Geiſtes- wiſſenſchaften wirkt, iſt der ganze Menſch; große Leiſtungen in ihnen gehen nicht von der bloßen Stärke der Intelligenz aus, ſondern von einer Mächtigkeit des perſönlichen Lebens. Dieſe geiſtige Thätigkeit findet ſich, ohne jeden weiteren Zweck einer Erkenntniß des Totalzuſammenhangs von dem Singularen und Thatſäch- lichen in dieſer geiſtigen Welt angezogen und befriedigt, und mit dem Auffaſſen iſt für ſie praktiſche Tendenz in Beurtheilung, Ideal, Regel verbunden. Aus dieſen Grundverhältniſſen ergiebt ſich für das Individuum der Geſellſchaft gegenüber ein doppelter Anſatzpunkt ſeines Nach- denkens. Es vollbringt ſeine Thätigkeit an dieſem Ganzen mit Be- wußtſein, bildet Regeln derſelben, ſucht Bedingungen derſelben in dem Zuſammenhang der geiſtigen Welt. Andrerſeits aber verhält es ſich als anſchauende Intelligenz und möchte in ſeiner Er-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/70>, abgerufen am 05.05.2024.