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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
Arbeit desselben an einem durch die Totalität des Gemüthes ge-
schaffenen Zusammenhang. In dieser Totalität ist zugleich mit
dem Ich ein Anderes, ein von ihm Unabhängiges gegeben: dem
Willen, welchem es widersteht und der die Eindrücke nicht ändern
kann, dem Gefühl, das von ihm leidet: unmittelbar also, nicht
durch einen Schluß, sondern als Leben. Dieses Subjekt uns gegen-
über, diese wirkende Ursache möchte der Wille der Erkenntniß auf
dem natürlichen Standpunkte durchdringen und bewältigen. Er
ist sich zunächst des Zusammenhangs des Subjektes des Natur-
laufs mit dem Selbstbewußtsein nicht bewußt. Selbständig steht
ihm dieses in der äußeren Wahrnehmung gegenüber, und er strebt,
es nun mit den ihm gegebenen Mitteln von Begriff, Urtheil,
Schluß, sonach als denknothwendigen Zusammenhang, zu begreifen.
Aber was in der Totalität unseres Wesens gegeben ist, kann nie
ganz in Gedanken aufgelöst werden. Entweder wurde der Gehalt
der Metaphysik unzureichend für die Anforderungen der lebensvollen
Menschennatur, oder die Beweise erwiesen sich als unzureichend,
indem sie das, was der Verstand an der Erfahrung festzustellen
vermag, zu überschreiten strebten. So wurde die Metaphysik ein
Tummelplatz von Trugschlüssen.

Was in dem Gegebenen von selbständiger Provenienz ist,
hat einen für die Erkenntniß unauflöslichen Kern, und Inhalte
der Erfahrung, die durch ihre Herkunft von einander getrennt sind,
lassen sich nicht einer in den anderen überführen. Daher ist die
Metaphysik von falschen Ableitungen und von Antinomien erfüllt ge-
wesen. So entsprangen zunächst die Antinomien zwischen dem mit
endlichen Größen rechnenden Intellekt und der Anschauung, welche
der Erkenntniß der äußeren Natur angehören. Ihr Kampfplatz war
schon die Metaphysik des Alterthums. Das Stätige in Raum,
Zeit und Bewegung kann durch die Konstruktion in Begriffen nicht
erreicht werden. Die Einheit der Welt und ihr Ausdruck in dem
gedankenmäßigen Zusammenhang allgemeiner Formen und Gesetze
kann durch eine Analysis, welche in Elemente zerlegt, und eine
Synthesis, die aus diesen Elementen zusammensetzt, nicht erklärlich
gemacht werden. Das Abgeschlossene des Anschauungsbildes wird

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Arbeit deſſelben an einem durch die Totalität des Gemüthes ge-
ſchaffenen Zuſammenhang. In dieſer Totalität iſt zugleich mit
dem Ich ein Anderes, ein von ihm Unabhängiges gegeben: dem
Willen, welchem es widerſteht und der die Eindrücke nicht ändern
kann, dem Gefühl, das von ihm leidet: unmittelbar alſo, nicht
durch einen Schluß, ſondern als Leben. Dieſes Subjekt uns gegen-
über, dieſe wirkende Urſache möchte der Wille der Erkenntniß auf
dem natürlichen Standpunkte durchdringen und bewältigen. Er
iſt ſich zunächſt des Zuſammenhangs des Subjektes des Natur-
laufs mit dem Selbſtbewußtſein nicht bewußt. Selbſtändig ſteht
ihm dieſes in der äußeren Wahrnehmung gegenüber, und er ſtrebt,
es nun mit den ihm gegebenen Mitteln von Begriff, Urtheil,
Schluß, ſonach als denknothwendigen Zuſammenhang, zu begreifen.
Aber was in der Totalität unſeres Weſens gegeben iſt, kann nie
ganz in Gedanken aufgelöſt werden. Entweder wurde der Gehalt
der Metaphyſik unzureichend für die Anforderungen der lebensvollen
Menſchennatur, oder die Beweiſe erwieſen ſich als unzureichend,
indem ſie das, was der Verſtand an der Erfahrung feſtzuſtellen
vermag, zu überſchreiten ſtrebten. So wurde die Metaphyſik ein
Tummelplatz von Trugſchlüſſen.

Was in dem Gegebenen von ſelbſtändiger Provenienz iſt,
hat einen für die Erkenntniß unauflöslichen Kern, und Inhalte
der Erfahrung, die durch ihre Herkunft von einander getrennt ſind,
laſſen ſich nicht einer in den anderen überführen. Daher iſt die
Metaphyſik von falſchen Ableitungen und von Antinomien erfüllt ge-
weſen. So entſprangen zunächſt die Antinomien zwiſchen dem mit
endlichen Größen rechnenden Intellekt und der Anſchauung, welche
der Erkenntniß der äußeren Natur angehören. Ihr Kampfplatz war
ſchon die Metaphyſik des Alterthums. Das Stätige in Raum,
Zeit und Bewegung kann durch die Konſtruktion in Begriffen nicht
erreicht werden. Die Einheit der Welt und ihr Ausdruck in dem
gedankenmäßigen Zuſammenhang allgemeiner Formen und Geſetze
kann durch eine Analyſis, welche in Elemente zerlegt, und eine
Syntheſis, die aus dieſen Elementen zuſammenſetzt, nicht erklärlich
gemacht werden. Das Abgeſchloſſene des Anſchauungsbildes wird

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[504/0527] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. Arbeit deſſelben an einem durch die Totalität des Gemüthes ge- ſchaffenen Zuſammenhang. In dieſer Totalität iſt zugleich mit dem Ich ein Anderes, ein von ihm Unabhängiges gegeben: dem Willen, welchem es widerſteht und der die Eindrücke nicht ändern kann, dem Gefühl, das von ihm leidet: unmittelbar alſo, nicht durch einen Schluß, ſondern als Leben. Dieſes Subjekt uns gegen- über, dieſe wirkende Urſache möchte der Wille der Erkenntniß auf dem natürlichen Standpunkte durchdringen und bewältigen. Er iſt ſich zunächſt des Zuſammenhangs des Subjektes des Natur- laufs mit dem Selbſtbewußtſein nicht bewußt. Selbſtändig ſteht ihm dieſes in der äußeren Wahrnehmung gegenüber, und er ſtrebt, es nun mit den ihm gegebenen Mitteln von Begriff, Urtheil, Schluß, ſonach als denknothwendigen Zuſammenhang, zu begreifen. Aber was in der Totalität unſeres Weſens gegeben iſt, kann nie ganz in Gedanken aufgelöſt werden. Entweder wurde der Gehalt der Metaphyſik unzureichend für die Anforderungen der lebensvollen Menſchennatur, oder die Beweiſe erwieſen ſich als unzureichend, indem ſie das, was der Verſtand an der Erfahrung feſtzuſtellen vermag, zu überſchreiten ſtrebten. So wurde die Metaphyſik ein Tummelplatz von Trugſchlüſſen. Was in dem Gegebenen von ſelbſtändiger Provenienz iſt, hat einen für die Erkenntniß unauflöslichen Kern, und Inhalte der Erfahrung, die durch ihre Herkunft von einander getrennt ſind, laſſen ſich nicht einer in den anderen überführen. Daher iſt die Metaphyſik von falſchen Ableitungen und von Antinomien erfüllt ge- weſen. So entſprangen zunächſt die Antinomien zwiſchen dem mit endlichen Größen rechnenden Intellekt und der Anſchauung, welche der Erkenntniß der äußeren Natur angehören. Ihr Kampfplatz war ſchon die Metaphyſik des Alterthums. Das Stätige in Raum, Zeit und Bewegung kann durch die Konſtruktion in Begriffen nicht erreicht werden. Die Einheit der Welt und ihr Ausdruck in dem gedankenmäßigen Zuſammenhang allgemeiner Formen und Geſetze kann durch eine Analyſis, welche in Elemente zerlegt, und eine Syntheſis, die aus dieſen Elementen zuſammenſetzt, nicht erklärlich gemacht werden. Das Abgeſchloſſene des Anſchauungsbildes wird

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/527>, abgerufen am 25.11.2024.