Die Intensitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, sondern wir be- zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsstärke zu einer anderen. So ist die Herstellung eines Zusammenhangs nicht ein Vorgang, welcher auf die Erfassung der Wirklichkeit folgt, sondern Niemand faßt ein Augenblicksbild isolirt als Wirklichkeit, wir be- sitzen es in einem Zusammenhang, vermittelst dessen wir, noch vor aller wissenschaftlichen Beschäftigung, Wirklichkeit festzustellen suchen.
Die wissenschaftliche Beschäftigung bringt Methode in dieses Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich versetzt sie den Mittelpunkt für das System von Bestimmungen, dem die Eindrücke eingeordnet werden, in dies System selber. Sie ent- wickelt einen objektiven Raum, innerhalb dessen die einzelne In- telligenz sich an einer bestimmten Stelle findet, eine objektive Zeit, in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein- nimmt, sowie einen objektiven Kausalzusammenhang und feste Elementeinheiten, zwischen denen er stattfindet. Die ganze Rich- tung der Wissenschaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks- bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen ist, vermittelst der vom Denken verfolgten Relationen, in denen diese Bilder im Bewußtsein sich befanden, objektive Realität und objektiven Zusammenhang zu setzen. Und jedes Urtheil über Existenz und Beschaffenheit eines äußeren Gegenstandes ist schließlich durch den Denkzusammenhang bedingt, in welchem diese Existenz oder Be- schaffenheit als nothwendig gesetzt ist. Das zufällige Zusammen von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den Ausgangspunkt für die Konstruktion einer allgemeingültigen Wirk- lichkeit.
Sonach beherrscht der Satz, jedes Gegebene stehe in einem denknothwendigen Zusammenhang, in welchem es bedingt sei und selber bedinge, zunächst die Lösung der Aufgabe, allgemeingültige und feste Urtheile über die Außenwelt festzustellen. Die Re- lativität, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt, wird von der wissenschaftlichen Analysis in dem Bewußtsein der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung
Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Die Intenſitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, ſondern wir be- zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsſtärke zu einer anderen. So iſt die Herſtellung eines Zuſammenhangs nicht ein Vorgang, welcher auf die Erfaſſung der Wirklichkeit folgt, ſondern Niemand faßt ein Augenblicksbild iſolirt als Wirklichkeit, wir be- ſitzen es in einem Zuſammenhang, vermittelſt deſſen wir, noch vor aller wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung, Wirklichkeit feſtzuſtellen ſuchen.
Die wiſſenſchaftliche Beſchäftigung bringt Methode in dieſes Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich verſetzt ſie den Mittelpunkt für das Syſtem von Beſtimmungen, dem die Eindrücke eingeordnet werden, in dies Syſtem ſelber. Sie ent- wickelt einen objektiven Raum, innerhalb deſſen die einzelne In- telligenz ſich an einer beſtimmten Stelle findet, eine objektive Zeit, in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein- nimmt, ſowie einen objektiven Kauſalzuſammenhang und feſte Elementeinheiten, zwiſchen denen er ſtattfindet. Die ganze Rich- tung der Wiſſenſchaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks- bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen iſt, vermittelſt der vom Denken verfolgten Relationen, in denen dieſe Bilder im Bewußtſein ſich befanden, objektive Realität und objektiven Zuſammenhang zu ſetzen. Und jedes Urtheil über Exiſtenz und Beſchaffenheit eines äußeren Gegenſtandes iſt ſchließlich durch den Denkzuſammenhang bedingt, in welchem dieſe Exiſtenz oder Be- ſchaffenheit als nothwendig geſetzt iſt. Das zufällige Zuſammen von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den Ausgangspunkt für die Konſtruktion einer allgemeingültigen Wirk- lichkeit.
Sonach beherrſcht der Satz, jedes Gegebene ſtehe in einem denknothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt ſei und ſelber bedinge, zunächſt die Löſung der Aufgabe, allgemeingültige und feſte Urtheile über die Außenwelt feſtzuſtellen. Die Re- lativität, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt, wird von der wiſſenſchaftlichen Analyſis in dem Bewußtſein der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung
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Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Die Intenſitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu
beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, ſondern wir be-
zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsſtärke zu einer
anderen. So iſt die Herſtellung eines Zuſammenhangs nicht ein
Vorgang, welcher auf die Erfaſſung der Wirklichkeit folgt, ſondern
Niemand faßt ein Augenblicksbild iſolirt als Wirklichkeit, wir be-
ſitzen es in einem Zuſammenhang, vermittelſt deſſen wir, noch vor
aller wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung, Wirklichkeit feſtzuſtellen ſuchen.
Die wiſſenſchaftliche Beſchäftigung bringt Methode
in dieſes Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich
verſetzt ſie den Mittelpunkt für das Syſtem von Beſtimmungen, dem
die Eindrücke eingeordnet werden, in dies Syſtem ſelber. Sie ent-
wickelt einen objektiven Raum, innerhalb deſſen die einzelne In-
telligenz ſich an einer beſtimmten Stelle findet, eine objektive Zeit,
in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein-
nimmt, ſowie einen objektiven Kauſalzuſammenhang und feſte
Elementeinheiten, zwiſchen denen er ſtattfindet. Die ganze Rich-
tung der Wiſſenſchaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks-
bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen iſt, vermittelſt
der vom Denken verfolgten Relationen, in denen dieſe Bilder
im Bewußtſein ſich befanden, objektive Realität und objektiven
Zuſammenhang zu ſetzen. Und jedes Urtheil über Exiſtenz und
Beſchaffenheit eines äußeren Gegenſtandes iſt ſchließlich durch den
Denkzuſammenhang bedingt, in welchem dieſe Exiſtenz oder Be-
ſchaffenheit als nothwendig geſetzt iſt. Das zufällige Zuſammen
von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den
Ausgangspunkt für die Konſtruktion einer allgemeingültigen Wirk-
lichkeit.
Sonach beherrſcht der Satz, jedes Gegebene ſtehe in einem
denknothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt ſei und
ſelber bedinge, zunächſt die Löſung der Aufgabe, allgemeingültige
und feſte Urtheile über die Außenwelt feſtzuſtellen. Die Re-
lativität, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt,
wird von der wiſſenſchaftlichen Analyſis in dem Bewußtſein
der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/523>, abgerufen am 16.02.2025.
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