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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
sicher als wir etwas behaupten, unterwerfen wir ihm diese Be-
hauptung. Es kann geschehen, daß wir an einem Punkte nicht
den Widerspruch einer Behauptung mit dem Denkgesetz des Wider-
spruchs bemerken; jedoch, sobald auch der ganz Ungebildete auf
diesen Widerspruch aufmerksam gemacht wird, entzieht er sich nicht
der Konsequenz, daß von Behauptungen, welche solchergestalt in
Widerspruch miteinander treten, nur Eine wahr sein kann, Eine
falsch sein muß. Der Satz vom Grunde dagegen, im Sinne von
Leibniz und Wolff gefaßt, hat augenscheinlich nicht dieselbe Stellung
in unsrem Denken, und es war daher nicht richtig, wenn Leibniz
beide Sätze als gleichwerthige Prinzipien nebeneinander stellte.
Dies hat sich uns aus der ganzen Geschichte des menschlichen
Denkens ergeben. Der Mensch in der Epoche mythischen Vor-
stellens setzte sich Willensmächte gegenüber, welche mit unbe-
rechenbarer Freiheit schalteten. Es wäre unnütz gewesen, wenn
ein Logiker zu diesem im mythischen Vorstellen befangenen Menschen
getreten wäre und ihm deutlich gemacht hätte: der nothwendige
Zusammenhang des Weltlaufs ist da aufgehoben, wo deine Götter
walten. Eine solche Einsicht hätte jenem niemals die Ueberzeug-
ungen von seinen Göttern gestört, vielmehr würde sie nur das
über den logischen Zusammenhang der Welt Hinausreichende ihm
klarer gemacht haben, was in solchem Glauben als gewaltige Kraft
mitenthalten war. Der Mensch in der Morgendämmerung der
Wissenschaft suchte dann einen inneren Zusammenhang im Kosmos,
aber der Glaube an die freie Macht der Götter inmitten desselben
verharrte in ihm. Der griechische Mensch in der Blüthezeit der
Metaphysik betrachtete seinen Willen als frei. Was ihm hier in
lebendigem und unmittelbarem Wissen gegeben war, wurde ihm
nicht dadurch unsicher, daß das Bewußtsein der Denknothwendig-
keit in ihm ebenfalls vorhanden war; vielmehr erschien ihm mit
diesem logischen Bewußtsein das Festhalten dessen verträglich, was
er in unmittelbarem Wissen als Freiheit besaß. Der mittelalter-
liche Mensch zeigt eine übertriebene Neigung zu logischen Betrach-
tungen, doch hat ihn diese nicht bestimmt, die religiös-geschichtliche
Welt, in der er lebte und die überall denknothwendigen Zusammen-

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
ſicher als wir etwas behaupten, unterwerfen wir ihm dieſe Be-
hauptung. Es kann geſchehen, daß wir an einem Punkte nicht
den Widerſpruch einer Behauptung mit dem Denkgeſetz des Wider-
ſpruchs bemerken; jedoch, ſobald auch der ganz Ungebildete auf
dieſen Widerſpruch aufmerkſam gemacht wird, entzieht er ſich nicht
der Konſequenz, daß von Behauptungen, welche ſolchergeſtalt in
Widerſpruch miteinander treten, nur Eine wahr ſein kann, Eine
falſch ſein muß. Der Satz vom Grunde dagegen, im Sinne von
Leibniz und Wolff gefaßt, hat augenſcheinlich nicht dieſelbe Stellung
in unſrem Denken, und es war daher nicht richtig, wenn Leibniz
beide Sätze als gleichwerthige Prinzipien nebeneinander ſtellte.
Dies hat ſich uns aus der ganzen Geſchichte des menſchlichen
Denkens ergeben. Der Menſch in der Epoche mythiſchen Vor-
ſtellens ſetzte ſich Willensmächte gegenüber, welche mit unbe-
rechenbarer Freiheit ſchalteten. Es wäre unnütz geweſen, wenn
ein Logiker zu dieſem im mythiſchen Vorſtellen befangenen Menſchen
getreten wäre und ihm deutlich gemacht hätte: der nothwendige
Zuſammenhang des Weltlaufs iſt da aufgehoben, wo deine Götter
walten. Eine ſolche Einſicht hätte jenem niemals die Ueberzeug-
ungen von ſeinen Göttern geſtört, vielmehr würde ſie nur das
über den logiſchen Zuſammenhang der Welt Hinausreichende ihm
klarer gemacht haben, was in ſolchem Glauben als gewaltige Kraft
mitenthalten war. Der Menſch in der Morgendämmerung der
Wiſſenſchaft ſuchte dann einen inneren Zuſammenhang im Kosmos,
aber der Glaube an die freie Macht der Götter inmitten deſſelben
verharrte in ihm. Der griechiſche Menſch in der Blüthezeit der
Metaphyſik betrachtete ſeinen Willen als frei. Was ihm hier in
lebendigem und unmittelbarem Wiſſen gegeben war, wurde ihm
nicht dadurch unſicher, daß das Bewußtſein der Denknothwendig-
keit in ihm ebenfalls vorhanden war; vielmehr erſchien ihm mit
dieſem logiſchen Bewußtſein das Feſthalten deſſen verträglich, was
er in unmittelbarem Wiſſen als Freiheit beſaß. Der mittelalter-
liche Menſch zeigt eine übertriebene Neigung zu logiſchen Betrach-
tungen, doch hat ihn dieſe nicht beſtimmt, die religiös-geſchichtliche
Welt, in der er lebte und die überall denknothwendigen Zuſammen-

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[498/0521] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. ſicher als wir etwas behaupten, unterwerfen wir ihm dieſe Be- hauptung. Es kann geſchehen, daß wir an einem Punkte nicht den Widerſpruch einer Behauptung mit dem Denkgeſetz des Wider- ſpruchs bemerken; jedoch, ſobald auch der ganz Ungebildete auf dieſen Widerſpruch aufmerkſam gemacht wird, entzieht er ſich nicht der Konſequenz, daß von Behauptungen, welche ſolchergeſtalt in Widerſpruch miteinander treten, nur Eine wahr ſein kann, Eine falſch ſein muß. Der Satz vom Grunde dagegen, im Sinne von Leibniz und Wolff gefaßt, hat augenſcheinlich nicht dieſelbe Stellung in unſrem Denken, und es war daher nicht richtig, wenn Leibniz beide Sätze als gleichwerthige Prinzipien nebeneinander ſtellte. Dies hat ſich uns aus der ganzen Geſchichte des menſchlichen Denkens ergeben. Der Menſch in der Epoche mythiſchen Vor- ſtellens ſetzte ſich Willensmächte gegenüber, welche mit unbe- rechenbarer Freiheit ſchalteten. Es wäre unnütz geweſen, wenn ein Logiker zu dieſem im mythiſchen Vorſtellen befangenen Menſchen getreten wäre und ihm deutlich gemacht hätte: der nothwendige Zuſammenhang des Weltlaufs iſt da aufgehoben, wo deine Götter walten. Eine ſolche Einſicht hätte jenem niemals die Ueberzeug- ungen von ſeinen Göttern geſtört, vielmehr würde ſie nur das über den logiſchen Zuſammenhang der Welt Hinausreichende ihm klarer gemacht haben, was in ſolchem Glauben als gewaltige Kraft mitenthalten war. Der Menſch in der Morgendämmerung der Wiſſenſchaft ſuchte dann einen inneren Zuſammenhang im Kosmos, aber der Glaube an die freie Macht der Götter inmitten deſſelben verharrte in ihm. Der griechiſche Menſch in der Blüthezeit der Metaphyſik betrachtete ſeinen Willen als frei. Was ihm hier in lebendigem und unmittelbarem Wiſſen gegeben war, wurde ihm nicht dadurch unſicher, daß das Bewußtſein der Denknothwendig- keit in ihm ebenfalls vorhanden war; vielmehr erſchien ihm mit dieſem logiſchen Bewußtſein das Feſthalten deſſen verträglich, was er in unmittelbarem Wiſſen als Freiheit beſaß. Der mittelalter- liche Menſch zeigt eine übertriebene Neigung zu logiſchen Betrach- tungen, doch hat ihn dieſe nicht beſtimmt, die religiös-geſchichtliche Welt, in der er lebte und die überall denknothwendigen Zuſammen-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/521>, abgerufen am 22.11.2024.