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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Gliederungen nach dem Verhältniß der Abhängigkeit der Wahrheiten.
Diese Arbeiten gewähren dem in die Geisteswissenschaften Eintre-
tenden eine ganz andere Art von Ueberblick als die Systematik
der Berufsstudien. Sie stellen die Geisteswissenschaften in den
Zusammenhang der Erkenntniß, sie fassen das Problem der-
selben in seinem ganzen Umfang, und nehmen die Lösung in
einer die ganze geschichtlich - gesellschaftliche Wirklichkeit umfassen-
den wissenschaftlichen Construktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von
der unter den Engländern und Franzosen heute herrschenden ver-
wegenen wissenschaftlichen Baulust, ohne das intime Gefühl der
geschichtlichen Wirklichkeit, welches nur aus einer vieljährigen Be-
schäftigung mit derselben in Einzelforschung sich bildet, haben diese
Positivisten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten
nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzel-
wissenschaften entsprochen hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit be-
ginnen müssen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung
beständig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch
Jahrtausende allmälig entstandenen Gebäudes der positiven Geistes-
wissenschaften zu ergründen, durch Vertiefung in den Bauplan sich
verständlich zu machen, und so der Vielseitigkeit, in welcher diese
Wissenschaften sich thatsächlich entwickelt haben, mit gesundem Blick
für die Vernunft der Geschichte gerecht zu werden. Sie haben

Der bedeutendste Gegenentwurf des Systems der Wissenschaften ist von
Herbert Spencer. Dem ersten Angriff auf Comte in Spencer, Essays,
first series,
1858 folgte die genauere Darlegung in: the classification of the
sciences,
1864 (vergl. die Vertheidigung Comte's in Littre, Auguste Comte
et la philosophie positive
). Die ausgeführte Darstellung der Gliederung
der Geisteswissenschaften giebt nunmehr sein System der synthetischen Phi-
losophie, von welchem die Prinzipien der Psychologie zuerst 1855 erschienen,
die der Sociologie seit 1876 hervortreten (mit Beziehung auf das Werk: De-
scriptive Sociology
), der abschließende Theil, die Prinzipien der Ethik (von
welchem er selber erklärt, daß er ihn "für denjenigen halte, für welchen
alle vorhergehenden nur die Grundlage bilden sollen") in einem ersten
Bande 1879 die "Thatsachen der Ethik" behandelt. Neben diesem Versuch
einer Constitution der Theorie der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit
ist noch der von John Stuart Mill bemerkenswerth; er ist enthalten im
sechsten Buch der Logik, das von der Logik der Geisteswissenschaften oder
der moralischen Wissenschaften handelt, und in der Schrift: Mill, Auguste
Comte and Positivism
. 1865.

Gliederungen nach dem Verhältniß der Abhängigkeit der Wahrheiten.
Dieſe Arbeiten gewähren dem in die Geiſteswiſſenſchaften Eintre-
tenden eine ganz andere Art von Ueberblick als die Syſtematik
der Berufsſtudien. Sie ſtellen die Geiſteswiſſenſchaften in den
Zuſammenhang der Erkenntniß, ſie faſſen das Problem der-
ſelben in ſeinem ganzen Umfang, und nehmen die Löſung in
einer die ganze geſchichtlich - geſellſchaftliche Wirklichkeit umfaſſen-
den wiſſenſchaftlichen Conſtruktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von
der unter den Engländern und Franzoſen heute herrſchenden ver-
wegenen wiſſenſchaftlichen Bauluſt, ohne das intime Gefühl der
geſchichtlichen Wirklichkeit, welches nur aus einer vieljährigen Be-
ſchäftigung mit derſelben in Einzelforſchung ſich bildet, haben dieſe
Poſitiviſten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten
nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzel-
wiſſenſchaften entſprochen hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit be-
ginnen müſſen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung
beſtändig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch
Jahrtauſende allmälig entſtandenen Gebäudes der poſitiven Geiſtes-
wiſſenſchaften zu ergründen, durch Vertiefung in den Bauplan ſich
verſtändlich zu machen, und ſo der Vielſeitigkeit, in welcher dieſe
Wiſſenſchaften ſich thatſächlich entwickelt haben, mit geſundem Blick
für die Vernunft der Geſchichte gerecht zu werden. Sie haben

Der bedeutendſte Gegenentwurf des Syſtems der Wiſſenſchaften iſt von
Herbert Spencer. Dem erſten Angriff auf Comte in Spencer, Essays,
first series,
1858 folgte die genauere Darlegung in: the classification of the
sciences,
1864 (vergl. die Vertheidigung Comte’s in Littré, Auguste Comte
et la philosophie positive
). Die ausgeführte Darſtellung der Gliederung
der Geiſteswiſſenſchaften giebt nunmehr ſein Syſtem der ſynthetiſchen Phi-
loſophie, von welchem die Prinzipien der Pſychologie zuerſt 1855 erſchienen,
die der Sociologie ſeit 1876 hervortreten (mit Beziehung auf das Werk: De-
scriptive Sociology
), der abſchließende Theil, die Prinzipien der Ethik (von
welchem er ſelber erklärt, daß er ihn „für denjenigen halte, für welchen
alle vorhergehenden nur die Grundlage bilden ſollen“) in einem erſten
Bande 1879 die „Thatſachen der Ethik“ behandelt. Neben dieſem Verſuch
einer Conſtitution der Theorie der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit
iſt noch der von John Stuart Mill bemerkenswerth; er iſt enthalten im
ſechſten Buch der Logik, das von der Logik der Geiſteswiſſenſchaften oder
der moraliſchen Wiſſenſchaften handelt, und in der Schrift: Mill, Auguste
Comte and Positivism
. 1865.
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[29/0052] Gliederungen nach dem Verhältniß der Abhängigkeit der Wahrheiten. Dieſe Arbeiten gewähren dem in die Geiſteswiſſenſchaften Eintre- tenden eine ganz andere Art von Ueberblick als die Syſtematik der Berufsſtudien. Sie ſtellen die Geiſteswiſſenſchaften in den Zuſammenhang der Erkenntniß, ſie faſſen das Problem der- ſelben in ſeinem ganzen Umfang, und nehmen die Löſung in einer die ganze geſchichtlich - geſellſchaftliche Wirklichkeit umfaſſen- den wiſſenſchaftlichen Conſtruktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von der unter den Engländern und Franzoſen heute herrſchenden ver- wegenen wiſſenſchaftlichen Bauluſt, ohne das intime Gefühl der geſchichtlichen Wirklichkeit, welches nur aus einer vieljährigen Be- ſchäftigung mit derſelben in Einzelforſchung ſich bildet, haben dieſe Poſitiviſten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzel- wiſſenſchaften entſprochen hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit be- ginnen müſſen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung beſtändig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch Jahrtauſende allmälig entſtandenen Gebäudes der poſitiven Geiſtes- wiſſenſchaften zu ergründen, durch Vertiefung in den Bauplan ſich verſtändlich zu machen, und ſo der Vielſeitigkeit, in welcher dieſe Wiſſenſchaften ſich thatſächlich entwickelt haben, mit geſundem Blick für die Vernunft der Geſchichte gerecht zu werden. Sie haben 1) 1) Der bedeutendſte Gegenentwurf des Syſtems der Wiſſenſchaften iſt von Herbert Spencer. Dem erſten Angriff auf Comte in Spencer, Essays, first series, 1858 folgte die genauere Darlegung in: the classification of the sciences, 1864 (vergl. die Vertheidigung Comte’s in Littré, Auguste Comte et la philosophie positive). Die ausgeführte Darſtellung der Gliederung der Geiſteswiſſenſchaften giebt nunmehr ſein Syſtem der ſynthetiſchen Phi- loſophie, von welchem die Prinzipien der Pſychologie zuerſt 1855 erſchienen, die der Sociologie ſeit 1876 hervortreten (mit Beziehung auf das Werk: De- scriptive Sociology), der abſchließende Theil, die Prinzipien der Ethik (von welchem er ſelber erklärt, daß er ihn „für denjenigen halte, für welchen alle vorhergehenden nur die Grundlage bilden ſollen“) in einem erſten Bande 1879 die „Thatſachen der Ethik“ behandelt. Neben dieſem Verſuch einer Conſtitution der Theorie der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit iſt noch der von John Stuart Mill bemerkenswerth; er iſt enthalten im ſechſten Buch der Logik, das von der Logik der Geiſteswiſſenſchaften oder der moraliſchen Wiſſenſchaften handelt, und in der Schrift: Mill, Auguste Comte and Positivism. 1865.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/52>, abgerufen am 22.11.2024.