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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
das innere Wirken der Faktoren des gesellschaftlichen Lebens einen
ersten Einblick.

Das letzte und am meisten verwickelte Problem der Geistes-
wissenschaften bildet die Geschichte. Die im natürlichen System
enthaltenen Analysen wurden nun auf den geschichtlichen Verlauf
angewandt. Indem derselbe dem entsprechend in den verschiedenen
relativ selbständigen Lebenssphären verfolgt wurde, schwand die
theologische Einseitigkeit und der rohe Dualismus des Mittelalters.
Indem die Antriebe der geschichtlichen Bewegung in der Mensch-
heit selber aufgesucht wurden, endete die transscendente Geschichts-
auffassung. Eine freiere umfassendere Betrachtung trat hervor.
Aus der mittelalterlichen Metaphysik der Geschichte löste sich durch
die Arbeit der Geisteswissenschaften im achtzehnten Jahrhundert
eine universalhistorische Ansicht, deren Kern der Ent-
wicklungsgedanke
ist.

Die Seele des achtzehnten Jahrhunderts ist, untrennbar ver-
bunden, Aufklärung, Fortschritt des Menschengeschlechts und Idee
von Humanität. In diesen Begriffen ist dieselbe Realität, wie
sie das achtzehnte Jahrhundert beseelt, von verschiedenen Seiten
angesehen und ausgedrückt. -- Die Macht des Bewußtseins vom
Zusammenhang des Menschengeschlechts, wie das Mittel-
alter es metaphysisch ausgesprochen hatte, dauert fort. Im siebzehnten
Jahrhundert war das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit des
Menschengeschlechtes noch vorwiegend religiös begründet und wurde
nur auf die wissenschaftliche Gemeinschaft ausgedehnt, dagegen galt
auf weltlichem Gebiet das homo homini lupus, wie dieser Gegen-
satz durch Spinozas System so sonderbar hindurchgeht; nun er-
wuchs, insbesondere getragen von der Schule der Oekonomisten
und dem gemeinsamen Interesse der Aufklärung und Toleranz, in
den verschiedenen Ländern eine Solidarität auch der weltlichen
Interessen. So setzte sich die metaphysische Begründung des Zu-
sammenhangs im Menschengeschlecht in die allmälig anwachsende
Erkenntniß der realen Verbindungen um, welche Individuum an

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
das innere Wirken der Faktoren des geſellſchaftlichen Lebens einen
erſten Einblick.

Das letzte und am meiſten verwickelte Problem der Geiſtes-
wiſſenſchaften bildet die Geſchichte. Die im natürlichen Syſtem
enthaltenen Analyſen wurden nun auf den geſchichtlichen Verlauf
angewandt. Indem derſelbe dem entſprechend in den verſchiedenen
relativ ſelbſtändigen Lebensſphären verfolgt wurde, ſchwand die
theologiſche Einſeitigkeit und der rohe Dualismus des Mittelalters.
Indem die Antriebe der geſchichtlichen Bewegung in der Menſch-
heit ſelber aufgeſucht wurden, endete die transſcendente Geſchichts-
auffaſſung. Eine freiere umfaſſendere Betrachtung trat hervor.
Aus der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſchichte löſte ſich durch
die Arbeit der Geiſteswiſſenſchaften im achtzehnten Jahrhundert
eine univerſalhiſtoriſche Anſicht, deren Kern der Ent-
wicklungsgedanke
iſt.

Die Seele des achtzehnten Jahrhunderts iſt, untrennbar ver-
bunden, Aufklärung, Fortſchritt des Menſchengeſchlechts und Idee
von Humanität. In dieſen Begriffen iſt dieſelbe Realität, wie
ſie das achtzehnte Jahrhundert beſeelt, von verſchiedenen Seiten
angeſehen und ausgedrückt. — Die Macht des Bewußtſeins vom
Zuſammenhang des Menſchengeſchlechts, wie das Mittel-
alter es metaphyſiſch ausgeſprochen hatte, dauert fort. Im ſiebzehnten
Jahrhundert war das Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit des
Menſchengeſchlechtes noch vorwiegend religiös begründet und wurde
nur auf die wiſſenſchaftliche Gemeinſchaft ausgedehnt, dagegen galt
auf weltlichem Gebiet das homo homini lupus, wie dieſer Gegen-
ſatz durch Spinozas Syſtem ſo ſonderbar hindurchgeht; nun er-
wuchs, insbeſondere getragen von der Schule der Oekonomiſten
und dem gemeinſamen Intereſſe der Aufklärung und Toleranz, in
den verſchiedenen Ländern eine Solidarität auch der weltlichen
Intereſſen. So ſetzte ſich die metaphyſiſche Begründung des Zu-
ſammenhangs im Menſchengeſchlecht in die allmälig anwachſende
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[484/0507] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. das innere Wirken der Faktoren des geſellſchaftlichen Lebens einen erſten Einblick. Das letzte und am meiſten verwickelte Problem der Geiſtes- wiſſenſchaften bildet die Geſchichte. Die im natürlichen Syſtem enthaltenen Analyſen wurden nun auf den geſchichtlichen Verlauf angewandt. Indem derſelbe dem entſprechend in den verſchiedenen relativ ſelbſtändigen Lebensſphären verfolgt wurde, ſchwand die theologiſche Einſeitigkeit und der rohe Dualismus des Mittelalters. Indem die Antriebe der geſchichtlichen Bewegung in der Menſch- heit ſelber aufgeſucht wurden, endete die transſcendente Geſchichts- auffaſſung. Eine freiere umfaſſendere Betrachtung trat hervor. Aus der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſchichte löſte ſich durch die Arbeit der Geiſteswiſſenſchaften im achtzehnten Jahrhundert eine univerſalhiſtoriſche Anſicht, deren Kern der Ent- wicklungsgedanke iſt. Die Seele des achtzehnten Jahrhunderts iſt, untrennbar ver- bunden, Aufklärung, Fortſchritt des Menſchengeſchlechts und Idee von Humanität. In dieſen Begriffen iſt dieſelbe Realität, wie ſie das achtzehnte Jahrhundert beſeelt, von verſchiedenen Seiten angeſehen und ausgedrückt. — Die Macht des Bewußtſeins vom Zuſammenhang des Menſchengeſchlechts, wie das Mittel- alter es metaphyſiſch ausgeſprochen hatte, dauert fort. Im ſiebzehnten Jahrhundert war das Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit des Menſchengeſchlechtes noch vorwiegend religiös begründet und wurde nur auf die wiſſenſchaftliche Gemeinſchaft ausgedehnt, dagegen galt auf weltlichem Gebiet das homo homini lupus, wie dieſer Gegen- ſatz durch Spinozas Syſtem ſo ſonderbar hindurchgeht; nun er- wuchs, insbeſondere getragen von der Schule der Oekonomiſten und dem gemeinſamen Intereſſe der Aufklärung und Toleranz, in den verſchiedenen Ländern eine Solidarität auch der weltlichen Intereſſen. So ſetzte ſich die metaphyſiſche Begründung des Zu- ſammenhangs im Menſchengeſchlecht in die allmälig anwachſende Erkenntniß der realen Verbindungen um, welche Individuum an

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/507>, abgerufen am 22.11.2024.