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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
schrittweise gelockert. Das geschah auch hier, indem die Analysis
hinter
den äußeren teleologischen Zusammenhang nach
Formbegriffen jetzt zurückging und einen Zusammen-
hang
nach Gesetzen aufsuchte. Es wurde ermöglicht durch
Anwendung der erklärenden Psychologie und Ausbildung der ab-
strakten Wissenschaften, welche die Grundeigenschaften der innerhalb
der einzelnen Lebenskreise (Recht, Religion, Kunst etc.) zusammen-
gehörigen Theilinhalte entwickeln. So wurden die Zweckvorstel-
lungen des Aristoteles und der Scholastiker durch angemessene
Kausalbegriffe, die allgemeinen Formen durch Gesetze, die trans-
scendente Begründung durch eine immanente und im Studium
der menschlichen Natur gewonnene ersetzt. Damit war die Stellung
der älteren Metaphysik zu den Thatsachen der Gesellschaft und Ge-
schichte überwunden.

Indem wir erläutern, wie die moderne Wissenschaft die
theologische und metaphysische Auffassung der Gesellschaft zersetzt
hat, schränken wir uns auf die erste Phase ein, die mit dem
achtzehnten Jahrhundert abgeschlossen hinter uns liegt. Zunächst ent-
stand nämlich das natürliche System 1) der Erkenntniß der mensch-
lichen Gesellschaft, ihrer Zweckzusammenhänge wie ihrer äußeren
Organisation, wie es das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert aus-
gebildet haben: eine nicht minder großartige, wenn auch weniger
haltbare Schöpfung als die Begründung der Naturwissenschaft.

Denn dieses natürliche System bedeutet, daß die Gesell-
schaft hinfort aus der menschlichen Natur verstanden werden wird,
aus der sie entsprungen ist. In diesem System haben die Wissen-
schaften des Geistes zuerst ihr eigenes Centrum gefunden -- die
menschliche Natur. Insbesondere ging nun die Analysis auf
die psychologischen Wahrheiten zweiter Ordnung (wie wir sie ge-

1) Mit diesem Namen bezeichnen wir die als Naturrecht, natürliche
Theologie, natürliche Religion etc. sich ankündigenden Theorien, deren gemein-
sames Merkmal die Ableitung der gesellschaftlichen Erscheinungen aus dem
Kausalzusammenhang im Menschen war, gleichviel ob der Mensch nach
psychologischer Methode studirt oder biologisch aus dem Naturzusammen-
hang erklärt wurde.

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
ſchrittweiſe gelockert. Das geſchah auch hier, indem die Analyſis
hinter
den äußeren teleologiſchen Zuſammenhang nach
Formbegriffen jetzt zurückging und einen Zuſammen-
hang
nach Geſetzen aufſuchte. Es wurde ermöglicht durch
Anwendung der erklärenden Pſychologie und Ausbildung der ab-
ſtrakten Wiſſenſchaften, welche die Grundeigenſchaften der innerhalb
der einzelnen Lebenskreiſe (Recht, Religion, Kunſt etc.) zuſammen-
gehörigen Theilinhalte entwickeln. So wurden die Zweckvorſtel-
lungen des Ariſtoteles und der Scholaſtiker durch angemeſſene
Kauſalbegriffe, die allgemeinen Formen durch Geſetze, die trans-
ſcendente Begründung durch eine immanente und im Studium
der menſchlichen Natur gewonnene erſetzt. Damit war die Stellung
der älteren Metaphyſik zu den Thatſachen der Geſellſchaft und Ge-
ſchichte überwunden.

Indem wir erläutern, wie die moderne Wiſſenſchaft die
theologiſche und metaphyſiſche Auffaſſung der Geſellſchaft zerſetzt
hat, ſchränken wir uns auf die erſte Phaſe ein, die mit dem
achtzehnten Jahrhundert abgeſchloſſen hinter uns liegt. Zunächſt ent-
ſtand nämlich das natürliche Syſtem 1) der Erkenntniß der menſch-
lichen Geſellſchaft, ihrer Zweckzuſammenhänge wie ihrer äußeren
Organiſation, wie es das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert aus-
gebildet haben: eine nicht minder großartige, wenn auch weniger
haltbare Schöpfung als die Begründung der Naturwiſſenſchaft.

Denn dieſes natürliche Syſtem bedeutet, daß die Geſell-
ſchaft hinfort aus der menſchlichen Natur verſtanden werden wird,
aus der ſie entſprungen iſt. In dieſem Syſtem haben die Wiſſen-
ſchaften des Geiſtes zuerſt ihr eigenes Centrum gefunden — die
menſchliche Natur. Insbeſondere ging nun die Analyſis auf
die pſychologiſchen Wahrheiten zweiter Ordnung (wie wir ſie ge-

1) Mit dieſem Namen bezeichnen wir die als Naturrecht, natürliche
Theologie, natürliche Religion etc. ſich ankündigenden Theorien, deren gemein-
ſames Merkmal die Ableitung der geſellſchaftlichen Erſcheinungen aus dem
Kauſalzuſammenhang im Menſchen war, gleichviel ob der Menſch nach
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hang erklärt wurde.
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[482/0505] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. ſchrittweiſe gelockert. Das geſchah auch hier, indem die Analyſis hinter den äußeren teleologiſchen Zuſammenhang nach Formbegriffen jetzt zurückging und einen Zuſammen- hang nach Geſetzen aufſuchte. Es wurde ermöglicht durch Anwendung der erklärenden Pſychologie und Ausbildung der ab- ſtrakten Wiſſenſchaften, welche die Grundeigenſchaften der innerhalb der einzelnen Lebenskreiſe (Recht, Religion, Kunſt etc.) zuſammen- gehörigen Theilinhalte entwickeln. So wurden die Zweckvorſtel- lungen des Ariſtoteles und der Scholaſtiker durch angemeſſene Kauſalbegriffe, die allgemeinen Formen durch Geſetze, die trans- ſcendente Begründung durch eine immanente und im Studium der menſchlichen Natur gewonnene erſetzt. Damit war die Stellung der älteren Metaphyſik zu den Thatſachen der Geſellſchaft und Ge- ſchichte überwunden. Indem wir erläutern, wie die moderne Wiſſenſchaft die theologiſche und metaphyſiſche Auffaſſung der Geſellſchaft zerſetzt hat, ſchränken wir uns auf die erſte Phaſe ein, die mit dem achtzehnten Jahrhundert abgeſchloſſen hinter uns liegt. Zunächſt ent- ſtand nämlich das natürliche Syſtem 1) der Erkenntniß der menſch- lichen Geſellſchaft, ihrer Zweckzuſammenhänge wie ihrer äußeren Organiſation, wie es das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert aus- gebildet haben: eine nicht minder großartige, wenn auch weniger haltbare Schöpfung als die Begründung der Naturwiſſenſchaft. Denn dieſes natürliche Syſtem bedeutet, daß die Geſell- ſchaft hinfort aus der menſchlichen Natur verſtanden werden wird, aus der ſie entſprungen iſt. In dieſem Syſtem haben die Wiſſen- ſchaften des Geiſtes zuerſt ihr eigenes Centrum gefunden — die menſchliche Natur. Insbeſondere ging nun die Analyſis auf die pſychologiſchen Wahrheiten zweiter Ordnung (wie wir ſie ge- 1) Mit dieſem Namen bezeichnen wir die als Naturrecht, natürliche Theologie, natürliche Religion etc. ſich ankündigenden Theorien, deren gemein- ſames Merkmal die Ableitung der geſellſchaftlichen Erſcheinungen aus dem Kauſalzuſammenhang im Menſchen war, gleichviel ob der Menſch nach pſychologiſcher Methode ſtudirt oder biologiſch aus dem Naturzuſammen- hang erklärt wurde.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/505>, abgerufen am 22.11.2024.