David Hume, welcher über zwei Generationen nach Spi- noza dessen Werk fortsetzte, verhält sich zu Newton genau so wie Spinoza zu Galilei und Descartes. Seine Assoziationstheorie ist ein Versuch, nach dem Vorbild der Gravitationslehre Gesetze des Aneinanderhaftens von Vorstellungen zu entwerfen. "Die Astro- nomen", so erklärt er, "hatten sich lange begnügt, aus den sichtbaren Erscheinungen die wahren Bewegungen, die wahre Ord- nung und Größe der Himmelskörper zu beweisen, bis sich endlich ein Philosoph erhob, welcher durch ein glückliches Nachdenken auch die Gesetze und Kräfte bestimmt zu haben scheint, durch welche der Lauf der Planeten beherrscht und geleitet wird. Das Gleiche ist auf anderen Gebieten der Natur vollbracht worden. Und man hat keinen Grund, an einem gleichen Erfolg bei den Untersuchungen der Kräfte und der Einrichtung der Seele zu verzweifeln, wenn dieselben mit gleicher Fähigkeit und Vorsicht angestellt werden. Es ist wahrscheinlich, daß die eine Kraft und der eine Vorgang in der Seele von dem andern abhängt 1)."
So begann die erklärende Psychologie in der Unterordnung der geistigen Thatsachen unter den mechanischen Naturzusammen- hang, und diese Unterordnung wirkte bis in die Gegenwart. Zwei Theoreme haben die Grundlage des Versuchs gebildet, einen Mechanismus des geistigen Lebens zu entwerfen. Die Vor- stellungen, welche von den Eindrücken zurückbleiben, werden als feste Größen behandelt, die immer neue Verbindungen eingehen, aber in ihnen dieselben bleiben, und Gesetze ihres Verhaltens zu einander werden aufgestellt, aus denen die psychischen Thatsachen von Wahrnehmung, Phantasie etc. abzuleiten die Aufgabe ist. Hierdurch wird eine Art von psychischer Atomistik ermöglicht. Jedoch werden wir zeigen, daß die eine wie die andere dieser beiden Voraussetzungen falsch ist. So wenig als der neue Früh- ling die alten Blätter auf den Bäumen nur wieder sichtbar macht, werden die Vorstellungen des gestrigen Tages am heutigen, nur etwa dunkler, wiedererweckt; vielmehr baut sich die erneuerte
1) Hume, inquiry conc. human understanding, sect. 1.
Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
David Hume, welcher über zwei Generationen nach Spi- noza deſſen Werk fortſetzte, verhält ſich zu Newton genau ſo wie Spinoza zu Galilei und Descartes. Seine Aſſoziationstheorie iſt ein Verſuch, nach dem Vorbild der Gravitationslehre Geſetze des Aneinanderhaftens von Vorſtellungen zu entwerfen. „Die Aſtro- nomen“, ſo erklärt er, „hatten ſich lange begnügt, aus den ſichtbaren Erſcheinungen die wahren Bewegungen, die wahre Ord- nung und Größe der Himmelskörper zu beweiſen, bis ſich endlich ein Philoſoph erhob, welcher durch ein glückliches Nachdenken auch die Geſetze und Kräfte beſtimmt zu haben ſcheint, durch welche der Lauf der Planeten beherrſcht und geleitet wird. Das Gleiche iſt auf anderen Gebieten der Natur vollbracht worden. Und man hat keinen Grund, an einem gleichen Erfolg bei den Unterſuchungen der Kräfte und der Einrichtung der Seele zu verzweifeln, wenn dieſelben mit gleicher Fähigkeit und Vorſicht angeſtellt werden. Es iſt wahrſcheinlich, daß die eine Kraft und der eine Vorgang in der Seele von dem andern abhängt 1).“
So begann die erklärende Pſychologie in der Unterordnung der geiſtigen Thatſachen unter den mechaniſchen Naturzuſammen- hang, und dieſe Unterordnung wirkte bis in die Gegenwart. Zwei Theoreme haben die Grundlage des Verſuchs gebildet, einen Mechanismus des geiſtigen Lebens zu entwerfen. Die Vor- ſtellungen, welche von den Eindrücken zurückbleiben, werden als feſte Größen behandelt, die immer neue Verbindungen eingehen, aber in ihnen dieſelben bleiben, und Geſetze ihres Verhaltens zu einander werden aufgeſtellt, aus denen die pſychiſchen Thatſachen von Wahrnehmung, Phantaſie etc. abzuleiten die Aufgabe iſt. Hierdurch wird eine Art von pſychiſcher Atomiſtik ermöglicht. Jedoch werden wir zeigen, daß die eine wie die andere dieſer beiden Vorausſetzungen falſch iſt. So wenig als der neue Früh- ling die alten Blätter auf den Bäumen nur wieder ſichtbar macht, werden die Vorſtellungen des geſtrigen Tages am heutigen, nur etwa dunkler, wiedererweckt; vielmehr baut ſich die erneuerte
1) Hume, inquiry conc. human understanding, sect. 1.
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Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
David Hume, welcher über zwei Generationen nach Spi-
noza deſſen Werk fortſetzte, verhält ſich zu Newton genau ſo wie
Spinoza zu Galilei und Descartes. Seine Aſſoziationstheorie iſt
ein Verſuch, nach dem Vorbild der Gravitationslehre Geſetze des
Aneinanderhaftens von Vorſtellungen zu entwerfen. „Die Aſtro-
nomen“, ſo erklärt er, „hatten ſich lange begnügt, aus den
ſichtbaren Erſcheinungen die wahren Bewegungen, die wahre Ord-
nung und Größe der Himmelskörper zu beweiſen, bis ſich endlich
ein Philoſoph erhob, welcher durch ein glückliches Nachdenken auch
die Geſetze und Kräfte beſtimmt zu haben ſcheint, durch welche der
Lauf der Planeten beherrſcht und geleitet wird. Das Gleiche iſt
auf anderen Gebieten der Natur vollbracht worden. Und man
hat keinen Grund, an einem gleichen Erfolg bei den Unterſuchungen
der Kräfte und der Einrichtung der Seele zu verzweifeln, wenn
dieſelben mit gleicher Fähigkeit und Vorſicht angeſtellt werden.
Es iſt wahrſcheinlich, daß die eine Kraft und der eine Vorgang
in der Seele von dem andern abhängt 1).“
So begann die erklärende Pſychologie in der Unterordnung
der geiſtigen Thatſachen unter den mechaniſchen Naturzuſammen-
hang, und dieſe Unterordnung wirkte bis in die Gegenwart. Zwei
Theoreme haben die Grundlage des Verſuchs gebildet, einen
Mechanismus des geiſtigen Lebens zu entwerfen. Die Vor-
ſtellungen, welche von den Eindrücken zurückbleiben, werden als
feſte Größen behandelt, die immer neue Verbindungen eingehen,
aber in ihnen dieſelben bleiben, und Geſetze ihres Verhaltens zu
einander werden aufgeſtellt, aus denen die pſychiſchen Thatſachen
von Wahrnehmung, Phantaſie etc. abzuleiten die Aufgabe iſt.
Hierdurch wird eine Art von pſychiſcher Atomiſtik ermöglicht.
Jedoch werden wir zeigen, daß die eine wie die andere dieſer
beiden Vorausſetzungen falſch iſt. So wenig als der neue Früh-
ling die alten Blätter auf den Bäumen nur wieder ſichtbar
macht, werden die Vorſtellungen des geſtrigen Tages am heutigen,
nur etwa dunkler, wiedererweckt; vielmehr baut ſich die erneuerte
1) Hume, inquiry conc. human understanding, sect. 1.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/503>, abgerufen am 22.11.2024.
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