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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
klärung das tiefe Bewußtsein des Lebens in der Natur, wie es
in der Totalität unseres eigenen Lebens gegeben ist, in der Poesie
ausgesprochen; nicht als eine Art von schönem Schein oder von
Form (wie Vertreter der formalen Aesthetik annehmen würden),
sondern als gewaltiges Lebensgefühl; zunächst in der Naturempfin-
dung von Rousseau, dessen Lieblingsneigungen naturwissenschaftliche
waren, alsdann aber in Goethes Poesie und Naturphilosophie.
Dieser bekämpfte mit leidenschaftlichem Schmerz, vergebens, ohne
die Hilfsmittel klarer Auseinandersetzung, die sicheren Resultate
der Newton'schen mechanischen Naturerklärung, indem er diese als
Naturphilosophie betrachtete, nicht als das, was sie war: Entwick-
lung eines in der Natur gegebenen Theilzusammenhangs als ab-
straktes Hilfsmittel der Erkenntniß und Benutzung der Natur.
Ja selbst Schiller hat der wissenschaftlichen Analysis, welche zer-
legt und tödtet, die Synthesis künstlerischer Betrachtung gegenüber-
gestellt, als ein Verfahren von einem höheren Grad gleichsam
metaphysischer Wahrheit, und hat dem entsprechend in seiner
Aesthetik die Erfassung des selbständigen Lebens in der Natur
dem Künstler zugeschrieben. So ist in dem Differenzirungsprozeß
des Seelenlebens und der Gesellschaft das Heilige, Unverletzliche,
Allgewaltige, was als Natur unserem Leben thatsächlich gegeben
ist, von Dichtern und Künstlern geliebt und dargestellt worden,
während es einer wissenschaftlichen Behandlung nicht zugänglich
ist. Und hier ist weder der Dichter zu schmähen, der von dem
erfüllt ist, was für die Wissenschaft gar nicht da sein kann, noch
der Forscher, der von dem nichts weiß, was dem Dichter die
glücklichste Wahrheit ist. In der Differenzirung des Lebens der
Gesellschaft hat ein System wie die Poesie seine Funktion stets
modificirt. Die Dichtung hat seit der Herstellung der mechanischen
Naturauffassung das in sich verschlossene, keiner Erklärung zugäng-
liche große Gefühl des Lebens in der Natur aufrechterhalten, wie
sie überall schützt, was erlebt wird, aber nicht begriffen werden
kann, daß es nicht in den zerlegenden Operationen der abstrakten
Wissenschaft sich verflüchtige. In diesem Sinne ist was Carlyle
und Emerson geschrieben haben eine gestaltlose Poesie. Während

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
klärung das tiefe Bewußtſein des Lebens in der Natur, wie es
in der Totalität unſeres eigenen Lebens gegeben iſt, in der Poeſie
ausgeſprochen; nicht als eine Art von ſchönem Schein oder von
Form (wie Vertreter der formalen Aeſthetik annehmen würden),
ſondern als gewaltiges Lebensgefühl; zunächſt in der Naturempfin-
dung von Rouſſeau, deſſen Lieblingsneigungen naturwiſſenſchaftliche
waren, alsdann aber in Goethes Poeſie und Naturphiloſophie.
Dieſer bekämpfte mit leidenſchaftlichem Schmerz, vergebens, ohne
die Hilfsmittel klarer Auseinanderſetzung, die ſicheren Reſultate
der Newton’ſchen mechaniſchen Naturerklärung, indem er dieſe als
Naturphiloſophie betrachtete, nicht als das, was ſie war: Entwick-
lung eines in der Natur gegebenen Theilzuſammenhangs als ab-
ſtraktes Hilfsmittel der Erkenntniß und Benutzung der Natur.
Ja ſelbſt Schiller hat der wiſſenſchaftlichen Analyſis, welche zer-
legt und tödtet, die Syntheſis künſtleriſcher Betrachtung gegenüber-
geſtellt, als ein Verfahren von einem höheren Grad gleichſam
metaphyſiſcher Wahrheit, und hat dem entſprechend in ſeiner
Aeſthetik die Erfaſſung des ſelbſtändigen Lebens in der Natur
dem Künſtler zugeſchrieben. So iſt in dem Differenzirungsprozeß
des Seelenlebens und der Geſellſchaft das Heilige, Unverletzliche,
Allgewaltige, was als Natur unſerem Leben thatſächlich gegeben
iſt, von Dichtern und Künſtlern geliebt und dargeſtellt worden,
während es einer wiſſenſchaftlichen Behandlung nicht zugänglich
iſt. Und hier iſt weder der Dichter zu ſchmähen, der von dem
erfüllt iſt, was für die Wiſſenſchaft gar nicht da ſein kann, noch
der Forſcher, der von dem nichts weiß, was dem Dichter die
glücklichſte Wahrheit iſt. In der Differenzirung des Lebens der
Geſellſchaft hat ein Syſtem wie die Poeſie ſeine Funktion ſtets
modificirt. Die Dichtung hat ſeit der Herſtellung der mechaniſchen
Naturauffaſſung das in ſich verſchloſſene, keiner Erklärung zugäng-
liche große Gefühl des Lebens in der Natur aufrechterhalten, wie
ſie überall ſchützt, was erlebt wird, aber nicht begriffen werden
kann, daß es nicht in den zerlegenden Operationen der abſtrakten
Wiſſenſchaft ſich verflüchtige. In dieſem Sinne iſt was Carlyle
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[474/0497] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. klärung das tiefe Bewußtſein des Lebens in der Natur, wie es in der Totalität unſeres eigenen Lebens gegeben iſt, in der Poeſie ausgeſprochen; nicht als eine Art von ſchönem Schein oder von Form (wie Vertreter der formalen Aeſthetik annehmen würden), ſondern als gewaltiges Lebensgefühl; zunächſt in der Naturempfin- dung von Rouſſeau, deſſen Lieblingsneigungen naturwiſſenſchaftliche waren, alsdann aber in Goethes Poeſie und Naturphiloſophie. Dieſer bekämpfte mit leidenſchaftlichem Schmerz, vergebens, ohne die Hilfsmittel klarer Auseinanderſetzung, die ſicheren Reſultate der Newton’ſchen mechaniſchen Naturerklärung, indem er dieſe als Naturphiloſophie betrachtete, nicht als das, was ſie war: Entwick- lung eines in der Natur gegebenen Theilzuſammenhangs als ab- ſtraktes Hilfsmittel der Erkenntniß und Benutzung der Natur. Ja ſelbſt Schiller hat der wiſſenſchaftlichen Analyſis, welche zer- legt und tödtet, die Syntheſis künſtleriſcher Betrachtung gegenüber- geſtellt, als ein Verfahren von einem höheren Grad gleichſam metaphyſiſcher Wahrheit, und hat dem entſprechend in ſeiner Aeſthetik die Erfaſſung des ſelbſtändigen Lebens in der Natur dem Künſtler zugeſchrieben. So iſt in dem Differenzirungsprozeß des Seelenlebens und der Geſellſchaft das Heilige, Unverletzliche, Allgewaltige, was als Natur unſerem Leben thatſächlich gegeben iſt, von Dichtern und Künſtlern geliebt und dargeſtellt worden, während es einer wiſſenſchaftlichen Behandlung nicht zugänglich iſt. Und hier iſt weder der Dichter zu ſchmähen, der von dem erfüllt iſt, was für die Wiſſenſchaft gar nicht da ſein kann, noch der Forſcher, der von dem nichts weiß, was dem Dichter die glücklichſte Wahrheit iſt. In der Differenzirung des Lebens der Geſellſchaft hat ein Syſtem wie die Poeſie ſeine Funktion ſtets modificirt. Die Dichtung hat ſeit der Herſtellung der mechaniſchen Naturauffaſſung das in ſich verſchloſſene, keiner Erklärung zugäng- liche große Gefühl des Lebens in der Natur aufrechterhalten, wie ſie überall ſchützt, was erlebt wird, aber nicht begriffen werden kann, daß es nicht in den zerlegenden Operationen der abſtrakten Wiſſenſchaft ſich verflüchtige. In dieſem Sinne iſt was Carlyle und Emerſon geſchrieben haben eine geſtaltloſe Poeſie. Während

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/497>, abgerufen am 04.12.2024.