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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Offenbarung zur Hand gewesen wäre: sie legte Anfang, Mitte
und Ende des Lebenslaufs der Menschheit fest und bestimmte
dessen Gehalt. Daher bildete den Grundzug dieser Metaphysik
der Gesellschaft: jede Konstruktion in Begriffen ist nur der nach-
trägliche Versuch, das, was Tradition und religiöser Tiefsinn be-
sitzen, in Begriffen darzustellen und zu beweisen. -- Und zwar
ist die herrschende mittelalterliche Gesellschaftslehre ein theokratisches
System, jedoch galt dieses nicht ohne Widerspruch. Das Leben der
Korporationen enthielt ein anderes Element, ein Recht der Ge-
sammtheit, welches auf ein Vertragsverhältniß zurückzuweisen schien.
Dieser Bestandtheil wurde von der theokratischen Gesellschaftslehre
nicht erklärt, und wie die naturrechtliche Gesellschaftslehre sich ent-
wickelte, bezeichnete sie für das theokratische System eine Schranke
seiner Brauchbarkeit und eine Lücke in seinen Prämissen. -- Inner-
lich ist diese theokratische Metaphysik der Gesellschaft von den
Antinomien zerrissen, welche aus der metaphysischen Prinzipien-
lehre in die Philosophie der Gesellschaft hineinreichen. Die tiefste
dieser Antinomien wirkt in der Gesellschaftslehre als der Wider-
spruch zwischen der Auffassung Gottes als eines Intellekts, für
welchen nur das Ewige und Allgemeine ist, und als eines Willens,
welcher Veränderungen zu einem Ziele hin durchläuft, in zeitlichen
Akten sich kundthut und von den Thaten freier Willen zu Gegen-
wirkungen angeregt wird. Die ewigen Wahrheiten haben
als Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung für
das Alterthum innerhalb der Menschenwelt dieselbe Bedeu-
tung
wie die substantialen Formen innerhalb der Natur.
Als Aristoteles die platonischen Ideen in die Welt selber ver-
legte, stattete er diese Welt mit Ewigkeit sowol in Rücksicht ihres
Bestandes als ihrer Formen aus. In unveränderlicher Selbst-
gleichheit entsteht innerhalb derselben aus dem organischen Keime
das lebendige Wesen und der Keim selber rückwärts aus dem
Leben. Der Verlauf der Geschichte erringt nach Aristoteles der
Seele und der von ihr verwirklichen Eudämonie keinen tieferen
Inhalt. Ein festes Gefüge von Begriffen, welches das sich stets
gleiche Gesetz des Staatslebens enthält, wird von seiner deskrip-

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Offenbarung zur Hand geweſen wäre: ſie legte Anfang, Mitte
und Ende des Lebenslaufs der Menſchheit feſt und beſtimmte
deſſen Gehalt. Daher bildete den Grundzug dieſer Metaphyſik
der Geſellſchaft: jede Konſtruktion in Begriffen iſt nur der nach-
trägliche Verſuch, das, was Tradition und religiöſer Tiefſinn be-
ſitzen, in Begriffen darzuſtellen und zu beweiſen. — Und zwar
iſt die herrſchende mittelalterliche Geſellſchaftslehre ein theokratiſches
Syſtem, jedoch galt dieſes nicht ohne Widerſpruch. Das Leben der
Korporationen enthielt ein anderes Element, ein Recht der Ge-
ſammtheit, welches auf ein Vertragsverhältniß zurückzuweiſen ſchien.
Dieſer Beſtandtheil wurde von der theokratiſchen Geſellſchaftslehre
nicht erklärt, und wie die naturrechtliche Geſellſchaftslehre ſich ent-
wickelte, bezeichnete ſie für das theokratiſche Syſtem eine Schranke
ſeiner Brauchbarkeit und eine Lücke in ſeinen Prämiſſen. — Inner-
lich iſt dieſe theokratiſche Metaphyſik der Geſellſchaft von den
Antinomien zerriſſen, welche aus der metaphyſiſchen Prinzipien-
lehre in die Philoſophie der Geſellſchaft hineinreichen. Die tiefſte
dieſer Antinomien wirkt in der Geſellſchaftslehre als der Wider-
ſpruch zwiſchen der Auffaſſung Gottes als eines Intellekts, für
welchen nur das Ewige und Allgemeine iſt, und als eines Willens,
welcher Veränderungen zu einem Ziele hin durchläuft, in zeitlichen
Akten ſich kundthut und von den Thaten freier Willen zu Gegen-
wirkungen angeregt wird. Die ewigen Wahrheiten haben
als Prinzipien der geſellſchaftlichen Ordnung für
das Alterthum innerhalb der Menſchenwelt dieſelbe Bedeu-
tung
wie die ſubſtantialen Formen innerhalb der Natur.
Als Ariſtoteles die platoniſchen Ideen in die Welt ſelber ver-
legte, ſtattete er dieſe Welt mit Ewigkeit ſowol in Rückſicht ihres
Beſtandes als ihrer Formen aus. In unveränderlicher Selbſt-
gleichheit entſteht innerhalb derſelben aus dem organiſchen Keime
das lebendige Weſen und der Keim ſelber rückwärts aus dem
Leben. Der Verlauf der Geſchichte erringt nach Ariſtoteles der
Seele und der von ihr verwirklichen Eudämonie keinen tieferen
Inhalt. Ein feſtes Gefüge von Begriffen, welches das ſich ſtets
gleiche Geſetz des Staatslebens enthält, wird von ſeiner deſkrip-

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[444/0467] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Offenbarung zur Hand geweſen wäre: ſie legte Anfang, Mitte und Ende des Lebenslaufs der Menſchheit feſt und beſtimmte deſſen Gehalt. Daher bildete den Grundzug dieſer Metaphyſik der Geſellſchaft: jede Konſtruktion in Begriffen iſt nur der nach- trägliche Verſuch, das, was Tradition und religiöſer Tiefſinn be- ſitzen, in Begriffen darzuſtellen und zu beweiſen. — Und zwar iſt die herrſchende mittelalterliche Geſellſchaftslehre ein theokratiſches Syſtem, jedoch galt dieſes nicht ohne Widerſpruch. Das Leben der Korporationen enthielt ein anderes Element, ein Recht der Ge- ſammtheit, welches auf ein Vertragsverhältniß zurückzuweiſen ſchien. Dieſer Beſtandtheil wurde von der theokratiſchen Geſellſchaftslehre nicht erklärt, und wie die naturrechtliche Geſellſchaftslehre ſich ent- wickelte, bezeichnete ſie für das theokratiſche Syſtem eine Schranke ſeiner Brauchbarkeit und eine Lücke in ſeinen Prämiſſen. — Inner- lich iſt dieſe theokratiſche Metaphyſik der Geſellſchaft von den Antinomien zerriſſen, welche aus der metaphyſiſchen Prinzipien- lehre in die Philoſophie der Geſellſchaft hineinreichen. Die tiefſte dieſer Antinomien wirkt in der Geſellſchaftslehre als der Wider- ſpruch zwiſchen der Auffaſſung Gottes als eines Intellekts, für welchen nur das Ewige und Allgemeine iſt, und als eines Willens, welcher Veränderungen zu einem Ziele hin durchläuft, in zeitlichen Akten ſich kundthut und von den Thaten freier Willen zu Gegen- wirkungen angeregt wird. Die ewigen Wahrheiten haben als Prinzipien der geſellſchaftlichen Ordnung für das Alterthum innerhalb der Menſchenwelt dieſelbe Bedeu- tung wie die ſubſtantialen Formen innerhalb der Natur. Als Ariſtoteles die platoniſchen Ideen in die Welt ſelber ver- legte, ſtattete er dieſe Welt mit Ewigkeit ſowol in Rückſicht ihres Beſtandes als ihrer Formen aus. In unveränderlicher Selbſt- gleichheit entſteht innerhalb derſelben aus dem organiſchen Keime das lebendige Weſen und der Keim ſelber rückwärts aus dem Leben. Der Verlauf der Geſchichte erringt nach Ariſtoteles der Seele und der von ihr verwirklichen Eudämonie keinen tieferen Inhalt. Ein feſtes Gefüge von Begriffen, welches das ſich ſtets gleiche Geſetz des Staatslebens enthält, wird von ſeiner deſkrip-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/467>, abgerufen am 24.11.2024.