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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Kirche und die theokratische Gesellschaftsordnung.
schaftlichen Zusammenhang der positiven Jurisprudenz mit schöpferi-
scher Kraft eingeführt. Wir heben nur den Grundgedanken heraus.
Die Korporation der Kirche beruht auf unmittelbarer göttlicher
Einsetzung; sie wird von dem himmlischen König regiert; von
diesem transscendenten Willen aus durchströmt sie der Geist Gottes;
und zwar ist die Art wie er in der Kirche wirkt durch die gött-
liche Einsetzung festgestellt, daher in rechtlichen Formen bestimmt,
an welche die Heilsmittheilung wie die in ihr begründete Macht-
befugniß der Kirche gebunden ist; die Form dieser Verfassung
ist der rechtliche Ausdruck der Thatsache, daß in ihr der göttliche
Wille aus der transscendenten Welt in die irdische, und innerhalb
dieser von dem Stellvertreter Christi in Stufen abwärts geleitet
wird. Man gewahrt hier, daß dem System der Hierarchie
innerlich eine emanatistische Vorstellungsweise ent-
spricht
, wie denn die Darstellung der himmlischen und irdischen
Hierarchie durch den Areopagiten und die Wirkung dieser Dar-
stellung im Mittelalter einen solchen Zusammenhang bestätigt; die
Idee Gottes ist in einen lebendigen Fluß und Prozeß aufge-
löst; von Gott aus erstreckt sich ein Willenszusammenhang in den
Naturzusammenhang.

Diese theokratische Gesellschaftsordnung des Mittelalters setzt an
die Stelle der bisherigen politischen Prinzipien des Abendlandes
das der Autorität, die von Gott stammt. Die in ihr wirkende
Anschauung hat die ganze Auffassung der Gesellschaft im Mittel-
alter umgestaltet. In der Jurisprudenz entstand nun ein Begriff
der Korporation, welchem gemäß die natürlichen Individuen, die
in ihr verbunden sind, nur das wirkliche Rechtssubjekt repräsentiren,
das als unleiblich und unsichtbar allein durch seine Glieder zu
handeln vermag; die wichtigen staatsrechtlichen Begriffe der Reprä-
sentation und des persönlichen Amtes bildeten sich aus. In der
politischen Wissenschaft entstand die theologische Begründung der
Begriffe vom Staat und, verbunden mit ihr, eine erste Metaphysik
der Gesellschaft, welche in der allgemeinen Metaphysik gegründet
war und die ganze damals bekannte Wirklichkeit der geschichtlichen
und gesellschaftlichen Phänomene umfaßte.


Dilthey, Einleitung. 28

Die Kirche und die theokratiſche Geſellſchaftsordnung.
ſchaftlichen Zuſammenhang der poſitiven Jurisprudenz mit ſchöpferi-
ſcher Kraft eingeführt. Wir heben nur den Grundgedanken heraus.
Die Korporation der Kirche beruht auf unmittelbarer göttlicher
Einſetzung; ſie wird von dem himmliſchen König regiert; von
dieſem transſcendenten Willen aus durchſtrömt ſie der Geiſt Gottes;
und zwar iſt die Art wie er in der Kirche wirkt durch die gött-
liche Einſetzung feſtgeſtellt, daher in rechtlichen Formen beſtimmt,
an welche die Heilsmittheilung wie die in ihr begründete Macht-
befugniß der Kirche gebunden iſt; die Form dieſer Verfaſſung
iſt der rechtliche Ausdruck der Thatſache, daß in ihr der göttliche
Wille aus der transſcendenten Welt in die irdiſche, und innerhalb
dieſer von dem Stellvertreter Chriſti in Stufen abwärts geleitet
wird. Man gewahrt hier, daß dem Syſtem der Hierarchie
innerlich eine emanatiſtiſche Vorſtellungsweiſe ent-
ſpricht
, wie denn die Darſtellung der himmliſchen und irdiſchen
Hierarchie durch den Areopagiten und die Wirkung dieſer Dar-
ſtellung im Mittelalter einen ſolchen Zuſammenhang beſtätigt; die
Idee Gottes iſt in einen lebendigen Fluß und Prozeß aufge-
löſt; von Gott aus erſtreckt ſich ein Willenszuſammenhang in den
Naturzuſammenhang.

Dieſe theokratiſche Geſellſchaftsordnung des Mittelalters ſetzt an
die Stelle der bisherigen politiſchen Prinzipien des Abendlandes
das der Autorität, die von Gott ſtammt. Die in ihr wirkende
Anſchauung hat die ganze Auffaſſung der Geſellſchaft im Mittel-
alter umgeſtaltet. In der Jurisprudenz entſtand nun ein Begriff
der Korporation, welchem gemäß die natürlichen Individuen, die
in ihr verbunden ſind, nur das wirkliche Rechtsſubjekt repräſentiren,
das als unleiblich und unſichtbar allein durch ſeine Glieder zu
handeln vermag; die wichtigen ſtaatsrechtlichen Begriffe der Reprä-
ſentation und des perſönlichen Amtes bildeten ſich aus. In der
politiſchen Wiſſenſchaft entſtand die theologiſche Begründung der
Begriffe vom Staat und, verbunden mit ihr, eine erſte Metaphyſik
der Geſellſchaft, welche in der allgemeinen Metaphyſik gegründet
war und die ganze damals bekannte Wirklichkeit der geſchichtlichen
und geſellſchaftlichen Phänomene umfaßte.


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[433/0456] Die Kirche und die theokratiſche Geſellſchaftsordnung. ſchaftlichen Zuſammenhang der poſitiven Jurisprudenz mit ſchöpferi- ſcher Kraft eingeführt. Wir heben nur den Grundgedanken heraus. Die Korporation der Kirche beruht auf unmittelbarer göttlicher Einſetzung; ſie wird von dem himmliſchen König regiert; von dieſem transſcendenten Willen aus durchſtrömt ſie der Geiſt Gottes; und zwar iſt die Art wie er in der Kirche wirkt durch die gött- liche Einſetzung feſtgeſtellt, daher in rechtlichen Formen beſtimmt, an welche die Heilsmittheilung wie die in ihr begründete Macht- befugniß der Kirche gebunden iſt; die Form dieſer Verfaſſung iſt der rechtliche Ausdruck der Thatſache, daß in ihr der göttliche Wille aus der transſcendenten Welt in die irdiſche, und innerhalb dieſer von dem Stellvertreter Chriſti in Stufen abwärts geleitet wird. Man gewahrt hier, daß dem Syſtem der Hierarchie innerlich eine emanatiſtiſche Vorſtellungsweiſe ent- ſpricht, wie denn die Darſtellung der himmliſchen und irdiſchen Hierarchie durch den Areopagiten und die Wirkung dieſer Dar- ſtellung im Mittelalter einen ſolchen Zuſammenhang beſtätigt; die Idee Gottes iſt in einen lebendigen Fluß und Prozeß aufge- löſt; von Gott aus erſtreckt ſich ein Willenszuſammenhang in den Naturzuſammenhang. Dieſe theokratiſche Geſellſchaftsordnung des Mittelalters ſetzt an die Stelle der bisherigen politiſchen Prinzipien des Abendlandes das der Autorität, die von Gott ſtammt. Die in ihr wirkende Anſchauung hat die ganze Auffaſſung der Geſellſchaft im Mittel- alter umgeſtaltet. In der Jurisprudenz entſtand nun ein Begriff der Korporation, welchem gemäß die natürlichen Individuen, die in ihr verbunden ſind, nur das wirkliche Rechtsſubjekt repräſentiren, das als unleiblich und unſichtbar allein durch ſeine Glieder zu handeln vermag; die wichtigen ſtaatsrechtlichen Begriffe der Reprä- ſentation und des perſönlichen Amtes bildeten ſich aus. In der politiſchen Wiſſenſchaft entſtand die theologiſche Begründung der Begriffe vom Staat und, verbunden mit ihr, eine erſte Metaphyſik der Geſellſchaft, welche in der allgemeinen Metaphyſik gegründet war und die ganze damals bekannte Wirklichkeit der geſchichtlichen und geſellſchaftlichen Phänomene umfaßte. Dilthey, Einleitung. 28

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/456>, abgerufen am 18.05.2024.