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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Ration. Psychologie zweiter Bestandth. d. Begründ. d. transsc. Welt.
Dem moralischen Beweis hat bekanntlich Raymund von Sabunde
eine zwingende Form zu geben versucht.

Doch waren alle Versuche, dem Zusammenhang der inneren,
besonders sittlichen Erfahrungen mit dem Gottesglauben die Form
eines metaphysischen Beweisverfahrens zu geben, von einer ebenso
vorübergehenden Bedeutung, als das Unternehmen, aus dem Kos-
mos einen persönlichen Gott zu erschließen. Denn die Elemente
der inneren Erfahrung, aus deren Analysis diese Versuche
folgerten, sind einer allgemeingültigen Darstellung nicht
fähig
. Ihr Gegenstand ist eben praktische Religion, und diese ist
persönliches Leben. Ja dieser praktische Glaube ist so unabhängig
von seiner theoretischen Darstellung, daß ein Mensch Gott gleichsam
zu leben vermag, dessen intellektuelle Lage ihm das Schicksal, Gott
zu bezweifeln, auferlegt hat. Daher erkannte der praktische Glaube
erst im Protestantismus, als die Metaphysik des Mittelalters sich
aufgelöst hatte, die wahre Beschaffenheit seiner Gewißheit.

Von der rationalen Theologie, dem Mittelpunkte des mittelalter-
lichen Denkens überhaupt, wenden wir uns zur rationalen
Psychologie
.

Sie empfing bereits von den Metaphysikern aus der
Zeit des Kampfes zwischen Christenthum, Judenthum
und griechisch-römischem Götterglauben ihre dauernde
systematische Gestalt
. Es ist dargelegt, wie die Erfahrungen
des Herzens, das Studium des Seelenlebens in den ersten Jahr-
hunderten nach Christus in den Vordergrund traten. Schon das
Ueberwiegen des Privatlebens wirkte in dieser Richtung. Als-
dann lenkte die Imperatorenherrschaft alle Blicke der römischen
Gesellschaft mit athemloser Spannung auf Einen Mann, und man

et in re erschließt, ist am deutlichsten in Anselms apologeticus c. 1
u. 3. -- In dem früheren Beweis Anselms ist besonders der Satz im
monologium c. 1 beachtenswerth: quaecunque justa dicuntur ad invicem,
sive pariter sive magis vel minus, non possunt intelligi justa nisi per
justitiam, quae non est aliud et aliud in diversis
. An dies frühere Be-
weisverfahren Anselm's schließt sich der vierte Beweisgrund des Thomas
summa theol. p. I quaest. 2 art. 3.

Ration. Pſychologie zweiter Beſtandth. d. Begründ. d. transſc. Welt.
Dem moraliſchen Beweis hat bekanntlich Raymund von Sabunde
eine zwingende Form zu geben verſucht.

Doch waren alle Verſuche, dem Zuſammenhang der inneren,
beſonders ſittlichen Erfahrungen mit dem Gottesglauben die Form
eines metaphyſiſchen Beweisverfahrens zu geben, von einer ebenſo
vorübergehenden Bedeutung, als das Unternehmen, aus dem Kos-
mos einen perſönlichen Gott zu erſchließen. Denn die Elemente
der inneren Erfahrung, aus deren Analyſis dieſe Verſuche
folgerten, ſind einer allgemeingültigen Darſtellung nicht
fähig
. Ihr Gegenſtand iſt eben praktiſche Religion, und dieſe iſt
perſönliches Leben. Ja dieſer praktiſche Glaube iſt ſo unabhängig
von ſeiner theoretiſchen Darſtellung, daß ein Menſch Gott gleichſam
zu leben vermag, deſſen intellektuelle Lage ihm das Schickſal, Gott
zu bezweifeln, auferlegt hat. Daher erkannte der praktiſche Glaube
erſt im Proteſtantismus, als die Metaphyſik des Mittelalters ſich
aufgelöſt hatte, die wahre Beſchaffenheit ſeiner Gewißheit.

Von der rationalen Theologie, dem Mittelpunkte des mittelalter-
lichen Denkens überhaupt, wenden wir uns zur rationalen
Pſychologie
.

Sie empfing bereits von den Metaphyſikern aus der
Zeit des Kampfes zwiſchen Chriſtenthum, Judenthum
und griechiſch-römiſchem Götterglauben ihre dauernde
ſyſtematiſche Geſtalt
. Es iſt dargelegt, wie die Erfahrungen
des Herzens, das Studium des Seelenlebens in den erſten Jahr-
hunderten nach Chriſtus in den Vordergrund traten. Schon das
Ueberwiegen des Privatlebens wirkte in dieſer Richtung. Als-
dann lenkte die Imperatorenherrſchaft alle Blicke der römiſchen
Geſellſchaft mit athemloſer Spannung auf Einen Mann, und man

et in re erſchließt, iſt am deutlichſten in Anſelms apologeticus c. 1
u. 3. — In dem früheren Beweis Anſelms iſt beſonders der Satz im
monologium c. 1 beachtenswerth: quaecunque justa dicuntur ad invicem,
sive pariter sive magis vel minus, non possunt intelligi justa nisi per
justitiam, quae non est aliud et aliud in diversis
. An dies frühere Be-
weisverfahren Anſelm’s ſchließt ſich der vierte Beweisgrund des Thomas
summa theol. p. I quaest. 2 art. 3.
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[395/0418] Ration. Pſychologie zweiter Beſtandth. d. Begründ. d. transſc. Welt. Dem moraliſchen Beweis hat bekanntlich Raymund von Sabunde eine zwingende Form zu geben verſucht. Doch waren alle Verſuche, dem Zuſammenhang der inneren, beſonders ſittlichen Erfahrungen mit dem Gottesglauben die Form eines metaphyſiſchen Beweisverfahrens zu geben, von einer ebenſo vorübergehenden Bedeutung, als das Unternehmen, aus dem Kos- mos einen perſönlichen Gott zu erſchließen. Denn die Elemente der inneren Erfahrung, aus deren Analyſis dieſe Verſuche folgerten, ſind einer allgemeingültigen Darſtellung nicht fähig. Ihr Gegenſtand iſt eben praktiſche Religion, und dieſe iſt perſönliches Leben. Ja dieſer praktiſche Glaube iſt ſo unabhängig von ſeiner theoretiſchen Darſtellung, daß ein Menſch Gott gleichſam zu leben vermag, deſſen intellektuelle Lage ihm das Schickſal, Gott zu bezweifeln, auferlegt hat. Daher erkannte der praktiſche Glaube erſt im Proteſtantismus, als die Metaphyſik des Mittelalters ſich aufgelöſt hatte, die wahre Beſchaffenheit ſeiner Gewißheit. Von der rationalen Theologie, dem Mittelpunkte des mittelalter- lichen Denkens überhaupt, wenden wir uns zur rationalen Pſychologie. Sie empfing bereits von den Metaphyſikern aus der Zeit des Kampfes zwiſchen Chriſtenthum, Judenthum und griechiſch-römiſchem Götterglauben ihre dauernde ſyſtematiſche Geſtalt. Es iſt dargelegt, wie die Erfahrungen des Herzens, das Studium des Seelenlebens in den erſten Jahr- hunderten nach Chriſtus in den Vordergrund traten. Schon das Ueberwiegen des Privatlebens wirkte in dieſer Richtung. Als- dann lenkte die Imperatorenherrſchaft alle Blicke der römiſchen Geſellſchaft mit athemloſer Spannung auf Einen Mann, und man 1) 1) et in re erſchließt, iſt am deutlichſten in Anſelms apologeticus c. 1 u. 3. — In dem früheren Beweis Anſelms iſt beſonders der Satz im monologium c. 1 beachtenswerth: quaecunque justa dicuntur ad invicem, sive pariter sive magis vel minus, non possunt intelligi justa nisi per justitiam, quae non est aliud et aliud in diversis. An dies frühere Be- weisverfahren Anſelm’s ſchließt ſich der vierte Beweisgrund des Thomas summa theol. p. I quaest. 2 art. 3.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/418>, abgerufen am 25.11.2024.