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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.

Metaphysik als Vernunftwissenschaft empfing in diesen Sätzen
die vollkommenste Form, welche ihr während des Mittelalters
gegeben worden ist. Diese Vernunftwissenschaft will das Ge-
dankenmäßige des Weltalls deutlich und begreiflich machen; ihr
Problem ist die Natur dieser Gedankenmäßigkeit, der Ursprung
derselben in der Welt und der des Wissens von ihr im Bewußt-
sein. Die Lösung des Problems wird auch in dieser Formel
in ein Transscendentes hineingeschoben; denn sie enthält eine
Relation zwischen drei Gliedern, in deren jedem dasselbe x, die
unaufgelöste, allgemeine Form der Einzeldinge, wiederkehrt. Die
Intelligenz, der Weltzusammenhang und Gott sind diese Glieder.
Und zwar ist Gott nicht nur bewegende und Zweckursache der
Welt, sondern auch vorbildliche Ursache derselben. Oder wie Scotus
Gott als die letzte Bedingung eines inneren und nothwendigen
Weltzusammenhangs aufzeigt: der Weltzusammenhang enthält eine
Verkettung der Ursachen, eine Ordnung der Zwecke, eine Stufen-
reihe der Vollkommenheit; alle drei Reihen führen auf einen An-
fangspunkt, der nicht durch ein weiter zurückliegendes Glied der-
selben Reihe bedingt ist, und zwar in derselben Wesenheit: denn,
ebenso wie später Spinoza folgert, das necesse esse ex se kann
nur Einer Wesenheit zukommen. So ist Gott in diesem metaphy-
sischen Zusammenhang die nothwendige Ursache 1).

Die Zahl der Wahrheiten, welche diese Vernunftwissenschaft
feststellen zu können glaubte, verringerte sich ihr beständig während
ihrer Arbeit; bis in dem Zeitalter Occam's die Formel selber,
nach welcher in Gott die Welt in Allgemeinbegriffen angelegt ist,
aufgelöst wurde und die Erfahrung des Singularen ihr Recht
geltend machte, nicht nur in Rücksicht auf die Außenwelt, sondern
sowol bei Roger Bacon als bei Occam auch in Bezug auf die
innere.



Einfügung der rationes in diese Formel, z. B. des Denkgesetzes des Wider-
spruchs, vgl. S. 331.
1) Duns Scotus in sentent. I dist. 2 quaest. 2 und 3.
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.

Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft empfing in dieſen Sätzen
die vollkommenſte Form, welche ihr während des Mittelalters
gegeben worden iſt. Dieſe Vernunftwiſſenſchaft will das Ge-
dankenmäßige des Weltalls deutlich und begreiflich machen; ihr
Problem iſt die Natur dieſer Gedankenmäßigkeit, der Urſprung
derſelben in der Welt und der des Wiſſens von ihr im Bewußt-
ſein. Die Löſung des Problems wird auch in dieſer Formel
in ein Transſcendentes hineingeſchoben; denn ſie enthält eine
Relation zwiſchen drei Gliedern, in deren jedem daſſelbe x, die
unaufgelöſte, allgemeine Form der Einzeldinge, wiederkehrt. Die
Intelligenz, der Weltzuſammenhang und Gott ſind dieſe Glieder.
Und zwar iſt Gott nicht nur bewegende und Zweckurſache der
Welt, ſondern auch vorbildliche Urſache derſelben. Oder wie Scotus
Gott als die letzte Bedingung eines inneren und nothwendigen
Weltzuſammenhangs aufzeigt: der Weltzuſammenhang enthält eine
Verkettung der Urſachen, eine Ordnung der Zwecke, eine Stufen-
reihe der Vollkommenheit; alle drei Reihen führen auf einen An-
fangspunkt, der nicht durch ein weiter zurückliegendes Glied der-
ſelben Reihe bedingt iſt, und zwar in derſelben Weſenheit: denn,
ebenſo wie ſpäter Spinoza folgert, das necesse esse ex se kann
nur Einer Weſenheit zukommen. So iſt Gott in dieſem metaphy-
ſiſchen Zuſammenhang die nothwendige Urſache 1).

Die Zahl der Wahrheiten, welche dieſe Vernunftwiſſenſchaft
feſtſtellen zu können glaubte, verringerte ſich ihr beſtändig während
ihrer Arbeit; bis in dem Zeitalter Occam’s die Formel ſelber,
nach welcher in Gott die Welt in Allgemeinbegriffen angelegt iſt,
aufgelöſt wurde und die Erfahrung des Singularen ihr Recht
geltend machte, nicht nur in Rückſicht auf die Außenwelt, ſondern
ſowol bei Roger Bacon als bei Occam auch in Bezug auf die
innere.



Einfügung der rationes in dieſe Formel, z. B. des Denkgeſetzes des Wider-
ſpruchs, vgl. S. 331.
1) Duns Scotus in sentent. I dist. 2 quaest. 2 und 3.
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[384/0407] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Metaphyſik als Vernunftwiſſenſchaft empfing in dieſen Sätzen die vollkommenſte Form, welche ihr während des Mittelalters gegeben worden iſt. Dieſe Vernunftwiſſenſchaft will das Ge- dankenmäßige des Weltalls deutlich und begreiflich machen; ihr Problem iſt die Natur dieſer Gedankenmäßigkeit, der Urſprung derſelben in der Welt und der des Wiſſens von ihr im Bewußt- ſein. Die Löſung des Problems wird auch in dieſer Formel in ein Transſcendentes hineingeſchoben; denn ſie enthält eine Relation zwiſchen drei Gliedern, in deren jedem daſſelbe x, die unaufgelöſte, allgemeine Form der Einzeldinge, wiederkehrt. Die Intelligenz, der Weltzuſammenhang und Gott ſind dieſe Glieder. Und zwar iſt Gott nicht nur bewegende und Zweckurſache der Welt, ſondern auch vorbildliche Urſache derſelben. Oder wie Scotus Gott als die letzte Bedingung eines inneren und nothwendigen Weltzuſammenhangs aufzeigt: der Weltzuſammenhang enthält eine Verkettung der Urſachen, eine Ordnung der Zwecke, eine Stufen- reihe der Vollkommenheit; alle drei Reihen führen auf einen An- fangspunkt, der nicht durch ein weiter zurückliegendes Glied der- ſelben Reihe bedingt iſt, und zwar in derſelben Weſenheit: denn, ebenſo wie ſpäter Spinoza folgert, das necesse esse ex se kann nur Einer Weſenheit zukommen. So iſt Gott in dieſem metaphy- ſiſchen Zuſammenhang die nothwendige Urſache 1). Die Zahl der Wahrheiten, welche dieſe Vernunftwiſſenſchaft feſtſtellen zu können glaubte, verringerte ſich ihr beſtändig während ihrer Arbeit; bis in dem Zeitalter Occam’s die Formel ſelber, nach welcher in Gott die Welt in Allgemeinbegriffen angelegt iſt, aufgelöſt wurde und die Erfahrung des Singularen ihr Recht geltend machte, nicht nur in Rückſicht auf die Außenwelt, ſondern ſowol bei Roger Bacon als bei Occam auch in Bezug auf die innere. 2) 1) Duns Scotus in sentent. I dist. 2 quaest. 2 und 3. 2) Einfügung der rationes in dieſe Formel, z. B. des Denkgeſetzes des Wider- ſpruchs, vgl. S. 331.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/407>, abgerufen am 22.11.2024.