Die Erneuerung der Naturwissenschaften geht von den Arabern aus.
alters trat erst ein, als zunächst die Araber in dem Natur- wissen der Griechen und in ihrer kosmischen Speku- lation ein zweites Centrum intellektueller Arbeit entdeckten und um dieses sich ein Kreis von Naturerkenntniß zu bilden begann.
Im Orient waren Aristoteles und einige wichtige mathe- matische, astronomische und medicinische Schriften der Griechen niemals verloren gegangen. Nach dem Untergange der griechischen Philosophie waren die Schulen der christlichen Syrer Hauptsitze der Kenntniß von griechischer Sprache, Metaphysik und Natur- erkenntniß geworden; syrische Uebertragungen griechischer Schriften vermittelten die Kenntniß derselben und wurden vielfach Uebersetzungen in das Arabische zu Grunde gelegt 1). Und zwar war der syrische Aristoteles, wie er zu den Arabern kam, schon von dem ursprüng- lichen gar sehr verschieden; freilich kann das nähere Verhältniß zwischen dem syrischen Aristoteles und den Theorien der arabischen Philosophen, wie sie zuerst bei al Kindi und al Farabi auf- traten, nach dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntniß noch nicht zureichend festgestellt werden 2). Mit der Verlegung der Residenz der Kalifen nach Bagdad, welches in der Mitte zwischen den beiden Sitzen des Naturwissens, Indien und den Schulen griechischer Wissenschaft, lag, wurden die Araber Träger dieser Tradition und ihrer Fortbildung. Nicht viel über hundert Jahre waren damals vergangen, seitdem diese arabischen Beduinen die Grenzen ihres Landes überschritten und Palästinas und Syriens sich bemächtigt hatten, und die Geschichte hat kein zweites Beispiel eines so wunderbar raschen Uebergangs aus einem verhältnißmäßig niedrigen geistigen Zustande in den einer raffinirten Civilisation. Die Kunst syrischer Aerzte, welcher diese zur Herrschaft über Asien aufsteigenden Beduinen bedurften führte Hippocrates und Galen ein, und Naturwissen wie Theologie wiesen auf Aristoteles; Kultus und Verwaltung machten mathematische und astronomische Kenntniß nothwendig: eine edle wissenschaftliche Neubegier bemäch-
1) Munk Melanges de philosophie juive et arabe p. 313 ff.
2) Nur unbestimmte Vermuthungen bei Renan Averroes 3 p. 92 ff.
Die Erneuerung der Naturwiſſenſchaften geht von den Arabern aus.
alters trat erſt ein, als zunächſt die Araber in dem Natur- wiſſen der Griechen und in ihrer kosmiſchen Speku- lation ein zweites Centrum intellektueller Arbeit entdeckten und um dieſes ſich ein Kreis von Naturerkenntniß zu bilden begann.
Im Orient waren Ariſtoteles und einige wichtige mathe- matiſche, aſtronomiſche und mediciniſche Schriften der Griechen niemals verloren gegangen. Nach dem Untergange der griechiſchen Philoſophie waren die Schulen der chriſtlichen Syrer Hauptſitze der Kenntniß von griechiſcher Sprache, Metaphyſik und Natur- erkenntniß geworden; ſyriſche Uebertragungen griechiſcher Schriften vermittelten die Kenntniß derſelben und wurden vielfach Ueberſetzungen in das Arabiſche zu Grunde gelegt 1). Und zwar war der ſyriſche Ariſtoteles, wie er zu den Arabern kam, ſchon von dem urſprüng- lichen gar ſehr verſchieden; freilich kann das nähere Verhältniß zwiſchen dem ſyriſchen Ariſtoteles und den Theorien der arabiſchen Philoſophen, wie ſie zuerſt bei al Kindi und al Farabi auf- traten, nach dem gegenwärtigen Stand unſerer Kenntniß noch nicht zureichend feſtgeſtellt werden 2). Mit der Verlegung der Reſidenz der Kalifen nach Bagdad, welches in der Mitte zwiſchen den beiden Sitzen des Naturwiſſens, Indien und den Schulen griechiſcher Wiſſenſchaft, lag, wurden die Araber Träger dieſer Tradition und ihrer Fortbildung. Nicht viel über hundert Jahre waren damals vergangen, ſeitdem dieſe arabiſchen Beduinen die Grenzen ihres Landes überſchritten und Paläſtinas und Syriens ſich bemächtigt hatten, und die Geſchichte hat kein zweites Beiſpiel eines ſo wunderbar raſchen Uebergangs aus einem verhältnißmäßig niedrigen geiſtigen Zuſtande in den einer raffinirten Civiliſation. Die Kunſt ſyriſcher Aerzte, welcher dieſe zur Herrſchaft über Aſien aufſteigenden Beduinen bedurften führte Hippocrates und Galen ein, und Naturwiſſen wie Theologie wieſen auf Ariſtoteles; Kultus und Verwaltung machten mathematiſche und aſtronomiſche Kenntniß nothwendig: eine edle wiſſenſchaftliche Neubegier bemäch-
1) Munk Mélanges de philosophie juive et arabe p. 313 ff.
2) Nur unbeſtimmte Vermuthungen bei Renan Averroès 3 p. 92 ff.
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Die Erneuerung der Naturwiſſenſchaften geht von den Arabern aus.
alters trat erſt ein, als zunächſt die Araber in dem Natur-
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und um dieſes ſich ein Kreis von Naturerkenntniß zu bilden begann.
Im Orient waren Ariſtoteles und einige wichtige mathe-
matiſche, aſtronomiſche und mediciniſche Schriften der Griechen
niemals verloren gegangen. Nach dem Untergange der griechiſchen
Philoſophie waren die Schulen der chriſtlichen Syrer Hauptſitze
der Kenntniß von griechiſcher Sprache, Metaphyſik und Natur-
erkenntniß geworden; ſyriſche Uebertragungen griechiſcher Schriften
vermittelten die Kenntniß derſelben und wurden vielfach Ueberſetzungen
in das Arabiſche zu Grunde gelegt 1). Und zwar war der ſyriſche
Ariſtoteles, wie er zu den Arabern kam, ſchon von dem urſprüng-
lichen gar ſehr verſchieden; freilich kann das nähere Verhältniß
zwiſchen dem ſyriſchen Ariſtoteles und den Theorien der arabiſchen
Philoſophen, wie ſie zuerſt bei al Kindi und al Farabi auf-
traten, nach dem gegenwärtigen Stand unſerer Kenntniß noch
nicht zureichend feſtgeſtellt werden 2). Mit der Verlegung der
Reſidenz der Kalifen nach Bagdad, welches in der Mitte zwiſchen
den beiden Sitzen des Naturwiſſens, Indien und den Schulen
griechiſcher Wiſſenſchaft, lag, wurden die Araber Träger dieſer
Tradition und ihrer Fortbildung. Nicht viel über hundert Jahre
waren damals vergangen, ſeitdem dieſe arabiſchen Beduinen die
Grenzen ihres Landes überſchritten und Paläſtinas und Syriens
ſich bemächtigt hatten, und die Geſchichte hat kein zweites Beiſpiel
eines ſo wunderbar raſchen Uebergangs aus einem verhältnißmäßig
niedrigen geiſtigen Zuſtande in den einer raffinirten Civiliſation.
Die Kunſt ſyriſcher Aerzte, welcher dieſe zur Herrſchaft über Aſien
aufſteigenden Beduinen bedurften führte Hippocrates und Galen
ein, und Naturwiſſen wie Theologie wieſen auf Ariſtoteles;
Kultus und Verwaltung machten mathematiſche und aſtronomiſche
Kenntniß nothwendig: eine edle wiſſenſchaftliche Neubegier bemäch-
1) Munk Mélanges de philosophie juive et arabe p. 313 ff.
2) Nur unbeſtimmte Vermuthungen bei Renan Averroès 3 p. 92 ff.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/394>, abgerufen am 22.11.2024.
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