Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Völker des Islam.
stellen unabänderlich gelegenen Antinomien zwischen dem freien
Willen und der Prädestination, der Einheit Gottes und seinen
Eigenschaften hervor. So erhoben sich hier im Orient dieselben
Fragen, welche vorher und gleichzeitig das christliche Abendland
bewegt haben. Und zwar lag hier wie dort der Antrieb in dem
religiösen Leben selber, und die Bekanntschaft mit dem antiken
Denken gewährte nur dieser Bewegung Nahrung. Der Versuch
der "lauteren Brüder", jenes merkwürdigen Geheimbundes im
Dienste der freien Forschung, Aristoteles, Neuplatonismus und
Islam zur Einheit eines encyklopädischen Zusammenhangs zu
verknüpfen, bildet ein weiteres Stadium dieser Gedankenentwicklung.
Auch dieser Versuch mißlang. "Sie ermüden -- äußerte sich
der Scheich Sagastani --, aber befriedigen nicht; sie schweifen
herum, aber gelangen nicht an; sie singen, aber sie erheitern
nicht; sie weben, aber in dünnen Fäden; sie kämmen, aber machen
kraus; sie wähnen was nicht ist und nicht sein kann" 1). Jenseit
der Theologie setzte die geistig regsame, scharfsinnig beobachtende,
aber der Tiefe und der sittlichen Selbständigkeit entbehrende Na-
tion, unterstützt von der Begabung der unterworfenen Völker,
die mathematisch-naturwissenschaftliche Arbeit der Griechen fort.
Und die Metaphysik der Araber, eine Erneuerung des Aristoteles
mit neuplatonischen Interpolationen, ließ gegen den einen, noth-
wendigen und gedankenmäßig allgemeinen Zusammenhang das
Element des Willens zurücktreten, ja gelangte in einigen ihrer be-
deutendsten Vertreter, wie Ibn Badja und Ibn Roschd, von solchen
Voraussetzungen zur Leugnung der persönlichen Unsterblichkeit.
Die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen und metaphysischen
Forschung der Araber gingen auf das Abendland über; wogegen
der Sieg der orthodoxen Schule der Aschariten über die Philo-
sophen, welcher sich schon im zwölften Jahrhundert entschied,
zusammen mit dem todten Despotismus der politischen Verfassung,
alles innere Leben im Islam selber versiechen machte.


1) Vgl. Flügel in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Ge-
sellschaft Bd. XIII S. 26.
22*

Die Völker des Islam.
ſtellen unabänderlich gelegenen Antinomien zwiſchen dem freien
Willen und der Prädeſtination, der Einheit Gottes und ſeinen
Eigenſchaften hervor. So erhoben ſich hier im Orient dieſelben
Fragen, welche vorher und gleichzeitig das chriſtliche Abendland
bewegt haben. Und zwar lag hier wie dort der Antrieb in dem
religiöſen Leben ſelber, und die Bekanntſchaft mit dem antiken
Denken gewährte nur dieſer Bewegung Nahrung. Der Verſuch
der „lauteren Brüder“, jenes merkwürdigen Geheimbundes im
Dienſte der freien Forſchung, Ariſtoteles, Neuplatonismus und
Islam zur Einheit eines encyklopädiſchen Zuſammenhangs zu
verknüpfen, bildet ein weiteres Stadium dieſer Gedankenentwicklung.
Auch dieſer Verſuch mißlang. „Sie ermüden — äußerte ſich
der Scheich Sagaſtani —, aber befriedigen nicht; ſie ſchweifen
herum, aber gelangen nicht an; ſie ſingen, aber ſie erheitern
nicht; ſie weben, aber in dünnen Fäden; ſie kämmen, aber machen
kraus; ſie wähnen was nicht iſt und nicht ſein kann“ 1). Jenſeit
der Theologie ſetzte die geiſtig regſame, ſcharfſinnig beobachtende,
aber der Tiefe und der ſittlichen Selbſtändigkeit entbehrende Na-
tion, unterſtützt von der Begabung der unterworfenen Völker,
die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Arbeit der Griechen fort.
Und die Metaphyſik der Araber, eine Erneuerung des Ariſtoteles
mit neuplatoniſchen Interpolationen, ließ gegen den einen, noth-
wendigen und gedankenmäßig allgemeinen Zuſammenhang das
Element des Willens zurücktreten, ja gelangte in einigen ihrer be-
deutendſten Vertreter, wie Ibn Badja und Ibn Roſchd, von ſolchen
Vorausſetzungen zur Leugnung der perſönlichen Unſterblichkeit.
Die Ergebniſſe der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen
Forſchung der Araber gingen auf das Abendland über; wogegen
der Sieg der orthodoxen Schule der Aſchariten über die Philo-
ſophen, welcher ſich ſchon im zwölften Jahrhundert entſchied,
zuſammen mit dem todten Despotismus der politiſchen Verfaſſung,
alles innere Leben im Islam ſelber verſiechen machte.


1) Vgl. Flügel in der Zeitſchrift der deutſchen morgenländiſchen Ge-
ſellſchaft Bd. XIII S. 26.
22*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0362" n="339"/><fw place="top" type="header">Die Völker des Islam.</fw><lb/>
&#x017F;tellen unabänderlich gelegenen Antinomien zwi&#x017F;chen dem freien<lb/>
Willen und der Präde&#x017F;tination, der Einheit Gottes und &#x017F;einen<lb/>
Eigen&#x017F;chaften hervor. So erhoben &#x017F;ich hier im Orient die&#x017F;elben<lb/>
Fragen, welche vorher und gleichzeitig das chri&#x017F;tliche Abendland<lb/>
bewegt haben. Und zwar lag hier wie dort der Antrieb in dem<lb/>
religiö&#x017F;en Leben &#x017F;elber, und die Bekannt&#x017F;chaft mit dem antiken<lb/>
Denken gewährte nur die&#x017F;er Bewegung Nahrung. Der Ver&#x017F;uch<lb/>
der &#x201E;lauteren Brüder&#x201C;, jenes merkwürdigen Geheimbundes im<lb/>
Dien&#x017F;te der freien For&#x017F;chung, Ari&#x017F;toteles, Neuplatonismus und<lb/>
Islam zur Einheit eines encyklopädi&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenhangs zu<lb/>
verknüpfen, bildet ein weiteres Stadium die&#x017F;er Gedankenentwicklung.<lb/>
Auch die&#x017F;er Ver&#x017F;uch mißlang. &#x201E;Sie ermüden &#x2014; äußerte &#x017F;ich<lb/>
der Scheich Saga&#x017F;tani &#x2014;, aber befriedigen nicht; &#x017F;ie &#x017F;chweifen<lb/>
herum, aber gelangen nicht an; &#x017F;ie &#x017F;ingen, aber &#x017F;ie erheitern<lb/>
nicht; &#x017F;ie weben, aber in dünnen Fäden; &#x017F;ie kämmen, aber machen<lb/>
kraus; &#x017F;ie wähnen was nicht i&#x017F;t und nicht &#x017F;ein kann&#x201C; <note place="foot" n="1)">Vgl. Flügel in der Zeit&#x017F;chrift der deut&#x017F;chen morgenländi&#x017F;chen Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft Bd. <hi rendition="#aq">XIII</hi> S. 26.</note>. Jen&#x017F;eit<lb/>
der Theologie &#x017F;etzte die gei&#x017F;tig reg&#x017F;ame, &#x017F;charf&#x017F;innig beobachtende,<lb/>
aber der Tiefe und der &#x017F;ittlichen Selb&#x017F;tändigkeit entbehrende Na-<lb/>
tion, unter&#x017F;tützt von der Begabung der unterworfenen Völker,<lb/>
die mathemati&#x017F;ch-naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Arbeit der Griechen fort.<lb/>
Und die Metaphy&#x017F;ik der Araber, eine Erneuerung des Ari&#x017F;toteles<lb/>
mit neuplatoni&#x017F;chen Interpolationen, ließ gegen den einen, noth-<lb/>
wendigen und gedankenmäßig allgemeinen Zu&#x017F;ammenhang das<lb/>
Element des Willens zurücktreten, ja gelangte in einigen ihrer be-<lb/>
deutend&#x017F;ten Vertreter, wie Ibn Badja und Ibn Ro&#x017F;chd, von &#x017F;olchen<lb/>
Voraus&#x017F;etzungen zur Leugnung der per&#x017F;önlichen Un&#x017F;terblichkeit.<lb/>
Die Ergebni&#x017F;&#x017F;e der naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen und metaphy&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
For&#x017F;chung der Araber gingen auf das Abendland über; wogegen<lb/>
der Sieg der orthodoxen Schule der A&#x017F;chariten über die Philo-<lb/>
&#x017F;ophen, welcher &#x017F;ich &#x017F;chon im zwölften Jahrhundert ent&#x017F;chied,<lb/>
zu&#x017F;ammen mit dem todten Despotismus der politi&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
alles innere Leben im Islam &#x017F;elber ver&#x017F;iechen machte.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">22*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[339/0362] Die Völker des Islam. ſtellen unabänderlich gelegenen Antinomien zwiſchen dem freien Willen und der Prädeſtination, der Einheit Gottes und ſeinen Eigenſchaften hervor. So erhoben ſich hier im Orient dieſelben Fragen, welche vorher und gleichzeitig das chriſtliche Abendland bewegt haben. Und zwar lag hier wie dort der Antrieb in dem religiöſen Leben ſelber, und die Bekanntſchaft mit dem antiken Denken gewährte nur dieſer Bewegung Nahrung. Der Verſuch der „lauteren Brüder“, jenes merkwürdigen Geheimbundes im Dienſte der freien Forſchung, Ariſtoteles, Neuplatonismus und Islam zur Einheit eines encyklopädiſchen Zuſammenhangs zu verknüpfen, bildet ein weiteres Stadium dieſer Gedankenentwicklung. Auch dieſer Verſuch mißlang. „Sie ermüden — äußerte ſich der Scheich Sagaſtani —, aber befriedigen nicht; ſie ſchweifen herum, aber gelangen nicht an; ſie ſingen, aber ſie erheitern nicht; ſie weben, aber in dünnen Fäden; ſie kämmen, aber machen kraus; ſie wähnen was nicht iſt und nicht ſein kann“ 1). Jenſeit der Theologie ſetzte die geiſtig regſame, ſcharfſinnig beobachtende, aber der Tiefe und der ſittlichen Selbſtändigkeit entbehrende Na- tion, unterſtützt von der Begabung der unterworfenen Völker, die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Arbeit der Griechen fort. Und die Metaphyſik der Araber, eine Erneuerung des Ariſtoteles mit neuplatoniſchen Interpolationen, ließ gegen den einen, noth- wendigen und gedankenmäßig allgemeinen Zuſammenhang das Element des Willens zurücktreten, ja gelangte in einigen ihrer be- deutendſten Vertreter, wie Ibn Badja und Ibn Roſchd, von ſolchen Vorausſetzungen zur Leugnung der perſönlichen Unſterblichkeit. Die Ergebniſſe der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen Forſchung der Araber gingen auf das Abendland über; wogegen der Sieg der orthodoxen Schule der Aſchariten über die Philo- ſophen, welcher ſich ſchon im zwölften Jahrhundert entſchied, zuſammen mit dem todten Despotismus der politiſchen Verfaſſung, alles innere Leben im Islam ſelber verſiechen machte. 1) Vgl. Flügel in der Zeitſchrift der deutſchen morgenländiſchen Ge- ſellſchaft Bd. XIII S. 26. 22*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/362
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/362>, abgerufen am 17.05.2024.