Das Christenthum und das geschichtliche Bewußtsein.
dem von geschichtlicher Realität erfüllten christlichen Seelenleben hat das historische Bewußtsein einer Entwicklung des ganzen Seelenlebens hervorgebracht. Denn das vollkommene sittliche Leben war der Christengemeinde nicht in der Formel eines Sittengesetzes oder höchsten Gutes gedankenmäßig darstellbar: als ein unergründlich Lebendiges wurde es von ihr in dem Leben Christi und in dem Ringen des eigenen Willens erfahren; so trat es nicht zu anderen Sätzen in Beziehung, sondern zu anderen Gestalten des sittlich- religiösen Lebens, die vor ihm bestanden und unter denen es nun erschien. Und dies historische Bewußtsein fand ein festes äußeres Gerüst in dem genealogischen Zusammenhang der Geschichte der Menschheit, welcher innerhalb des Judenthums geschaffen worden war.
So waren für die intellektuelle Entwicklung der europäischen Menschheit ganz veränderte Bedingungen erwachsen. Die Züge des Willens waren aus der Stille des Einzellebens in den Vorder- grund der Weltgeschichte getreten, welche ihn von dem ganzen Naturzusammenhang abscheiden: Aufopferung des Selbst, Aner- kennen des Göttlichen im Schmerz und in der Niedrigkeit, auf- richtige Verneinung dessen, was er an sich verwerfen muß. Die Beziehung der Personen auf einander in diesem ihren wesenhaften Kern, der über ihren ganzen Werth entscheidet, konstituirte ein Reich Gottes, innerhalb dessen jeder Unterschied der Völker, der Kulte und der Bildung aufgehoben war, das sonach von jeder Art politischen Verbandes sich loslöste. Und sollte die Metaphysik, welche das griechische Alterthum geschaffen hatte, fortbestehen, so mußte sie zu dieser neuen Welt des Willens und der Geschichte ein Verhältniß gewinnen. Auch lagen schon in der geistigen Bil- dung der sinkenden alten Völker wie in dem Schicksal des religiösen Vorgangs Bedingungen, welche über die Richtung entschieden, in der das geschah 1).
1) Vgl. S. 224.
Dilthey, Einleitung. 21
Das Chriſtenthum und das geſchichtliche Bewußtſein.
dem von geſchichtlicher Realität erfüllten chriſtlichen Seelenleben hat das hiſtoriſche Bewußtſein einer Entwicklung des ganzen Seelenlebens hervorgebracht. Denn das vollkommene ſittliche Leben war der Chriſtengemeinde nicht in der Formel eines Sittengeſetzes oder höchſten Gutes gedankenmäßig darſtellbar: als ein unergründlich Lebendiges wurde es von ihr in dem Leben Chriſti und in dem Ringen des eigenen Willens erfahren; ſo trat es nicht zu anderen Sätzen in Beziehung, ſondern zu anderen Geſtalten des ſittlich- religiöſen Lebens, die vor ihm beſtanden und unter denen es nun erſchien. Und dies hiſtoriſche Bewußtſein fand ein feſtes äußeres Gerüſt in dem genealogiſchen Zuſammenhang der Geſchichte der Menſchheit, welcher innerhalb des Judenthums geſchaffen worden war.
So waren für die intellektuelle Entwicklung der europäiſchen Menſchheit ganz veränderte Bedingungen erwachſen. Die Züge des Willens waren aus der Stille des Einzellebens in den Vorder- grund der Weltgeſchichte getreten, welche ihn von dem ganzen Naturzuſammenhang abſcheiden: Aufopferung des Selbſt, Aner- kennen des Göttlichen im Schmerz und in der Niedrigkeit, auf- richtige Verneinung deſſen, was er an ſich verwerfen muß. Die Beziehung der Perſonen auf einander in dieſem ihren weſenhaften Kern, der über ihren ganzen Werth entſcheidet, konſtituirte ein Reich Gottes, innerhalb deſſen jeder Unterſchied der Völker, der Kulte und der Bildung aufgehoben war, das ſonach von jeder Art politiſchen Verbandes ſich loslöſte. Und ſollte die Metaphyſik, welche das griechiſche Alterthum geſchaffen hatte, fortbeſtehen, ſo mußte ſie zu dieſer neuen Welt des Willens und der Geſchichte ein Verhältniß gewinnen. Auch lagen ſchon in der geiſtigen Bil- dung der ſinkenden alten Völker wie in dem Schickſal des religiöſen Vorgangs Bedingungen, welche über die Richtung entſchieden, in der das geſchah 1).
1) Vgl. S. 224.
Dilthey, Einleitung. 21
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Das Chriſtenthum und das geſchichtliche Bewußtſein.
dem von geſchichtlicher Realität erfüllten chriſtlichen Seelenleben hat
das hiſtoriſche Bewußtſein einer Entwicklung des ganzen Seelenlebens
hervorgebracht. Denn das vollkommene ſittliche Leben war der
Chriſtengemeinde nicht in der Formel eines Sittengeſetzes oder
höchſten Gutes gedankenmäßig darſtellbar: als ein unergründlich
Lebendiges wurde es von ihr in dem Leben Chriſti und in dem
Ringen des eigenen Willens erfahren; ſo trat es nicht zu anderen
Sätzen in Beziehung, ſondern zu anderen Geſtalten des ſittlich-
religiöſen Lebens, die vor ihm beſtanden und unter denen es nun
erſchien. Und dies hiſtoriſche Bewußtſein fand ein feſtes äußeres
Gerüſt in dem genealogiſchen Zuſammenhang der Geſchichte der
Menſchheit, welcher innerhalb des Judenthums geſchaffen worden
war.
So waren für die intellektuelle Entwicklung der europäiſchen
Menſchheit ganz veränderte Bedingungen erwachſen. Die Züge des
Willens waren aus der Stille des Einzellebens in den Vorder-
grund der Weltgeſchichte getreten, welche ihn von dem ganzen
Naturzuſammenhang abſcheiden: Aufopferung des Selbſt, Aner-
kennen des Göttlichen im Schmerz und in der Niedrigkeit, auf-
richtige Verneinung deſſen, was er an ſich verwerfen muß. Die
Beziehung der Perſonen auf einander in dieſem ihren weſenhaften
Kern, der über ihren ganzen Werth entſcheidet, konſtituirte ein
Reich Gottes, innerhalb deſſen jeder Unterſchied der Völker, der
Kulte und der Bildung aufgehoben war, das ſonach von jeder Art
politiſchen Verbandes ſich loslöſte. Und ſollte die Metaphyſik,
welche das griechiſche Alterthum geſchaffen hatte, fortbeſtehen, ſo
mußte ſie zu dieſer neuen Welt des Willens und der Geſchichte
ein Verhältniß gewinnen. Auch lagen ſchon in der geiſtigen Bil-
dung der ſinkenden alten Völker wie in dem Schickſal des religiöſen
Vorgangs Bedingungen, welche über die Richtung entſchieden, in
der das geſchah 1).
1) Vgl. S. 224.
Dilthey, Einleitung. 21
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/344>, abgerufen am 22.07.2024.
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