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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Subjektiver Charakter der nacharistotelischen Metaphysik.
Einzeldinge unter gemeinsamen Gesetzen stehen und auf einander
wirken? So pflanzt sich von Geschlecht zu Geschlecht der Kampf
fort zwischen der Klarheit, welche nur das sinnlich Vorstellbare
anerkennt, und der Tiefe, welche das Unfaßbare und doch That-
sächliche eines Zusammenhangs ausdrücken möchte, der in keinem
einzelnen sinnlichen Element wohnen kann. Goethe nennt das
einmal den Kampf des Unglaubens und des Glaubens und erklärt
diesen Gegensatz für den tiefsten in aller Geschichte. Die mecha-
nische Philosophie sowie andrerseits die skeptische haben innerhalb
der alten Welt sich der Zurückführung der besonders an der
Gestirnwelt angeschauten Naturordnung auf eine intellektuelle Ur-
sache entzogen. Der Skepticismus leugnete in Folge seiner un-
fruchtbaren, rein negativen Stellung zu den Phänomenen die Er-
kennbarkeit des Seienden überhaupt. Die Philosophie der Atomisten
erhielt wenigstens dasjenige Problem rege, dessen wissenschaftliche
Behandlung bei den neueren Völkern dann die Metaphysik der
intellektuellen Ursache in Frage gestellt hat: das Problem einer
mechanischen Erklärung des Kosmos.

An Einem Punkte findet eine Veränderung statt, welche sich
von der Metaphysik zu den großen Fragen der Einzelwissenschaften
erstreckt und für die weitere intellektuelle Entwicklung von außer-
ordentlich bedeutenden Folgen ist. Die Bedingungen, unter denen
die national-griechische Staatswissenschaft gestanden
hatte, sind nun vorüber. In der Zeit ihrer Herrschaft galt es,
den Einzelstaat zu einem Athleten zu bilden; die Freiheit, welche in
diesen Staaten bestand, war ein Antheil an der Herrschaft gewesen,
und ein moderner Mensch würde den Zustand eines athenischen
Bürgers in der Zeit von Kleon in vieler Rücksicht als Sklaverei
empfunden haben. Wol hatte sich schon mitten in der Zeit nationaler
Entwicklung hiergegen ein Widerspruch geregt. Die politischen
Schriften des immer noch nicht genug gewürdigten Antisthenes sowie
des Diogenes, von denen der eine nicht Vollbürger, der andere ein
Verbannter war, haben die innere Freiheit des Weisen gegenüber
dem Drucke des Staates, ja ein Gefühl von Fremdheit des
inneren Lebens gegenüber dem ganzen Lärme des äußeren politischen

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Subjektiver Charakter der nachariſtoteliſchen Metaphyſik.
Einzeldinge unter gemeinſamen Geſetzen ſtehen und auf einander
wirken? So pflanzt ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht der Kampf
fort zwiſchen der Klarheit, welche nur das ſinnlich Vorſtellbare
anerkennt, und der Tiefe, welche das Unfaßbare und doch That-
ſächliche eines Zuſammenhangs ausdrücken möchte, der in keinem
einzelnen ſinnlichen Element wohnen kann. Goethe nennt das
einmal den Kampf des Unglaubens und des Glaubens und erklärt
dieſen Gegenſatz für den tiefſten in aller Geſchichte. Die mecha-
niſche Philoſophie ſowie andrerſeits die ſkeptiſche haben innerhalb
der alten Welt ſich der Zurückführung der beſonders an der
Geſtirnwelt angeſchauten Naturordnung auf eine intellektuelle Ur-
ſache entzogen. Der Skepticismus leugnete in Folge ſeiner un-
fruchtbaren, rein negativen Stellung zu den Phänomenen die Er-
kennbarkeit des Seienden überhaupt. Die Philoſophie der Atomiſten
erhielt wenigſtens dasjenige Problem rege, deſſen wiſſenſchaftliche
Behandlung bei den neueren Völkern dann die Metaphyſik der
intellektuellen Urſache in Frage geſtellt hat: das Problem einer
mechaniſchen Erklärung des Kosmos.

An Einem Punkte findet eine Veränderung ſtatt, welche ſich
von der Metaphyſik zu den großen Fragen der Einzelwiſſenſchaften
erſtreckt und für die weitere intellektuelle Entwicklung von außer-
ordentlich bedeutenden Folgen iſt. Die Bedingungen, unter denen
die national-griechiſche Staatswiſſenſchaft geſtanden
hatte, ſind nun vorüber. In der Zeit ihrer Herrſchaft galt es,
den Einzelſtaat zu einem Athleten zu bilden; die Freiheit, welche in
dieſen Staaten beſtand, war ein Antheil an der Herrſchaft geweſen,
und ein moderner Menſch würde den Zuſtand eines atheniſchen
Bürgers in der Zeit von Kleon in vieler Rückſicht als Sklaverei
empfunden haben. Wol hatte ſich ſchon mitten in der Zeit nationaler
Entwicklung hiergegen ein Widerſpruch geregt. Die politiſchen
Schriften des immer noch nicht genug gewürdigten Antiſthenes ſowie
des Diogenes, von denen der eine nicht Vollbürger, der andere ein
Verbannter war, haben die innere Freiheit des Weiſen gegenüber
dem Drucke des Staates, ja ein Gefühl von Fremdheit des
inneren Lebens gegenüber dem ganzen Lärme des äußeren politiſchen

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[307/0330] Subjektiver Charakter der nachariſtoteliſchen Metaphyſik. Einzeldinge unter gemeinſamen Geſetzen ſtehen und auf einander wirken? So pflanzt ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht der Kampf fort zwiſchen der Klarheit, welche nur das ſinnlich Vorſtellbare anerkennt, und der Tiefe, welche das Unfaßbare und doch That- ſächliche eines Zuſammenhangs ausdrücken möchte, der in keinem einzelnen ſinnlichen Element wohnen kann. Goethe nennt das einmal den Kampf des Unglaubens und des Glaubens und erklärt dieſen Gegenſatz für den tiefſten in aller Geſchichte. Die mecha- niſche Philoſophie ſowie andrerſeits die ſkeptiſche haben innerhalb der alten Welt ſich der Zurückführung der beſonders an der Geſtirnwelt angeſchauten Naturordnung auf eine intellektuelle Ur- ſache entzogen. Der Skepticismus leugnete in Folge ſeiner un- fruchtbaren, rein negativen Stellung zu den Phänomenen die Er- kennbarkeit des Seienden überhaupt. Die Philoſophie der Atomiſten erhielt wenigſtens dasjenige Problem rege, deſſen wiſſenſchaftliche Behandlung bei den neueren Völkern dann die Metaphyſik der intellektuellen Urſache in Frage geſtellt hat: das Problem einer mechaniſchen Erklärung des Kosmos. An Einem Punkte findet eine Veränderung ſtatt, welche ſich von der Metaphyſik zu den großen Fragen der Einzelwiſſenſchaften erſtreckt und für die weitere intellektuelle Entwicklung von außer- ordentlich bedeutenden Folgen iſt. Die Bedingungen, unter denen die national-griechiſche Staatswiſſenſchaft geſtanden hatte, ſind nun vorüber. In der Zeit ihrer Herrſchaft galt es, den Einzelſtaat zu einem Athleten zu bilden; die Freiheit, welche in dieſen Staaten beſtand, war ein Antheil an der Herrſchaft geweſen, und ein moderner Menſch würde den Zuſtand eines atheniſchen Bürgers in der Zeit von Kleon in vieler Rückſicht als Sklaverei empfunden haben. Wol hatte ſich ſchon mitten in der Zeit nationaler Entwicklung hiergegen ein Widerſpruch geregt. Die politiſchen Schriften des immer noch nicht genug gewürdigten Antiſthenes ſowie des Diogenes, von denen der eine nicht Vollbürger, der andere ein Verbannter war, haben die innere Freiheit des Weiſen gegenüber dem Drucke des Staates, ja ein Gefühl von Fremdheit des inneren Lebens gegenüber dem ganzen Lärme des äußeren politiſchen 20*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/330>, abgerufen am 25.11.2024.