Fichte auf die deutsche Reformarbeit angesehen werden muß. Denn seinen Ausgangspunkt bildet eben das Einzelindividuum, der abstrakte Mensch, durch Merkmale bestimmt, welche zu allen Zeiten gleich- mäßig ihm zukommen, in abstrakten Beziehungen, welche aus diesen Merkmalen auf einem gleichsam abstrakten Boden folgen. Aus solchen Prämissen folgert das Naturrecht allgemeine Be- stimmungen einer jeden gesellschaftlichen Ordnung. Diese werden ihm der Maßstab für die Kritik der alten europäischen Gesellschaft und für die Neuordnung einer künftigen. So erhielt diese Be- griffsdichtung in der Revolution und ihrem Versuch eines Aufbaus der Gesellschaft auf die abstrakten Menschenatome eine furchtbare Realität.
Das Naturrecht kann als eine Metaphysik der Gesell- schaft bezeichnet werden, wenn der Ausdruck Metaphysik in diesem engeren Sinne gestattet wird, in welchem er eine Wissen- schaft ausdrücken würde, die den ganzen objektiven, inneren Zu- sammenhang der gesellschaftlichen Thatsachen in einer Theorie dar- stellt. Von Metaphysik in vollem Verstande unterscheidet sich das Naturrecht eben dadurch, daß seine Absicht nur auf die Konstruk- tion des inneren Zusammenhangs der Gesellschaft gerichtet ist; daher es gerade in seiner vollkommensten Gestalt nicht einen ob- jektiven inneren Zusammenhang aller Erscheinungen dem Studium der Gesellschaft zu Grunde legt, sondern diesen Gegenstand selb- ständig behandelt. In diesen Grenzen hat es die Eigenschaften einer Metaphysik. Es analysirt nicht die Wirklichkeit, sondern setzt sie aus abstrakten Theilinhalten von Individuen als aus veris causis zusammen und betrachtet den so entstehenden Zu- sammenhang als die reale Ursache der gesellschaftlichen Ordnung 1).
Hat sich nun dieser soziale Atomismus in der damaligen Lage der Wissenschaft fruchtbarer für die Specialerklärung der gesellschaftlichen Phänomene erwiesen, als der naturwissenschaft- liche für die Erscheinungen des Kosmos? Die erhaltenen Trümmer des damaligen Naturrechts erlauben kein ganz ausreichendes Ur-
1) Vgl. S. 99 ff.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Fichte auf die deutſche Reformarbeit angeſehen werden muß. Denn ſeinen Ausgangspunkt bildet eben das Einzelindividuum, der abſtrakte Menſch, durch Merkmale beſtimmt, welche zu allen Zeiten gleich- mäßig ihm zukommen, in abſtrakten Beziehungen, welche aus dieſen Merkmalen auf einem gleichſam abſtrakten Boden folgen. Aus ſolchen Prämiſſen folgert das Naturrecht allgemeine Be- ſtimmungen einer jeden geſellſchaftlichen Ordnung. Dieſe werden ihm der Maßſtab für die Kritik der alten europäiſchen Geſellſchaft und für die Neuordnung einer künftigen. So erhielt dieſe Be- griffsdichtung in der Revolution und ihrem Verſuch eines Aufbaus der Geſellſchaft auf die abſtrakten Menſchenatome eine furchtbare Realität.
Das Naturrecht kann als eine Metaphyſik der Geſell- ſchaft bezeichnet werden, wenn der Ausdruck Metaphyſik in dieſem engeren Sinne geſtattet wird, in welchem er eine Wiſſen- ſchaft ausdrücken würde, die den ganzen objektiven, inneren Zu- ſammenhang der geſellſchaftlichen Thatſachen in einer Theorie dar- ſtellt. Von Metaphyſik in vollem Verſtande unterſcheidet ſich das Naturrecht eben dadurch, daß ſeine Abſicht nur auf die Konſtruk- tion des inneren Zuſammenhangs der Geſellſchaft gerichtet iſt; daher es gerade in ſeiner vollkommenſten Geſtalt nicht einen ob- jektiven inneren Zuſammenhang aller Erſcheinungen dem Studium der Geſellſchaft zu Grunde legt, ſondern dieſen Gegenſtand ſelb- ſtändig behandelt. In dieſen Grenzen hat es die Eigenſchaften einer Metaphyſik. Es analyſirt nicht die Wirklichkeit, ſondern ſetzt ſie aus abſtrakten Theilinhalten von Individuen als aus veris causis zuſammen und betrachtet den ſo entſtehenden Zu- ſammenhang als die reale Urſache der geſellſchaftlichen Ordnung 1).
Hat ſich nun dieſer ſoziale Atomismus in der damaligen Lage der Wiſſenſchaft fruchtbarer für die Specialerklärung der geſellſchaftlichen Phänomene erwieſen, als der naturwiſſenſchaft- liche für die Erſcheinungen des Kosmos? Die erhaltenen Trümmer des damaligen Naturrechts erlauben kein ganz ausreichendes Ur-
1) Vgl. S. 99 ff.
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Fichte auf die deutſche Reformarbeit angeſehen werden muß. Denn
ſeinen Ausgangspunkt bildet eben das Einzelindividuum, der abſtrakte
Menſch, durch Merkmale beſtimmt, welche zu allen Zeiten gleich-
mäßig ihm zukommen, in abſtrakten Beziehungen, welche aus
dieſen Merkmalen auf einem gleichſam abſtrakten Boden folgen.
Aus ſolchen Prämiſſen folgert das Naturrecht allgemeine Be-
ſtimmungen einer jeden geſellſchaftlichen Ordnung. Dieſe werden
ihm der Maßſtab für die Kritik der alten europäiſchen Geſellſchaft
und für die Neuordnung einer künftigen. So erhielt dieſe Be-
griffsdichtung in der Revolution und ihrem Verſuch eines Aufbaus
der Geſellſchaft auf die abſtrakten Menſchenatome eine furchtbare
Realität.
Das Naturrecht kann als eine Metaphyſik der Geſell-
ſchaft bezeichnet werden, wenn der Ausdruck Metaphyſik in
dieſem engeren Sinne geſtattet wird, in welchem er eine Wiſſen-
ſchaft ausdrücken würde, die den ganzen objektiven, inneren Zu-
ſammenhang der geſellſchaftlichen Thatſachen in einer Theorie dar-
ſtellt. Von Metaphyſik in vollem Verſtande unterſcheidet ſich das
Naturrecht eben dadurch, daß ſeine Abſicht nur auf die Konſtruk-
tion des inneren Zuſammenhangs der Geſellſchaft gerichtet iſt;
daher es gerade in ſeiner vollkommenſten Geſtalt nicht einen ob-
jektiven inneren Zuſammenhang aller Erſcheinungen dem Studium
der Geſellſchaft zu Grunde legt, ſondern dieſen Gegenſtand ſelb-
ſtändig behandelt. In dieſen Grenzen hat es die Eigenſchaften
einer Metaphyſik. Es analyſirt nicht die Wirklichkeit, ſondern
ſetzt ſie aus abſtrakten Theilinhalten von Individuen als aus
veris causis zuſammen und betrachtet den ſo entſtehenden Zu-
ſammenhang als die reale Urſache der geſellſchaftlichen Ordnung 1).
Hat ſich nun dieſer ſoziale Atomismus in der damaligen Lage
der Wiſſenſchaft fruchtbarer für die Specialerklärung der
geſellſchaftlichen Phänomene erwieſen, als der naturwiſſenſchaft-
liche für die Erſcheinungen des Kosmos? Die erhaltenen Trümmer
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1) Vgl. S. 99 ff.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/305>, abgerufen am 26.06.2024.
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