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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Unterscheidung der ersten und zweiten Generation der Sophisten.
tuellen Entwicklung stellte andrerseits jedes Phänomen unter den
Gesichtspunkt der Relativität. Und so mußte die kluge Mäßigung
der ersten Generation der Sophisten gegenüber der gesellschaftlichen
Ordnung Griechenlands und den religiösen Grundlagen derselben
schrittweise einer radikaleren Haltung Platz machen.

Zwischen der ersten und zweiten Generation der Sophisten
steht Hippias. Auch in seiner Person spürt man, in einer
anderen Modifikation als in der des Protagoras oder Gorgias, die
Luft einer ganz veränderten Zeit. Virtuose Vielseitigkeit, deren
intellektueller Ehrgeiz über die kleinen Politien hinausgewachsen
ist, sonnt sich im Glanze einer Zeit, in welcher die Kunst weltlich
und ein Ausdruck schönen Lebensbedürfnisses, jedes wissenschaftliche
Problem Gegenstand radikaler Debatten geworden ist und in
welcher Reichthum und Ruhm auf dem weiten Theater der
griechisch redenden Völker in ganz neuem Maßstab zu erwerben
waren. Ich habe dargelegt, daß der Gegensatz zwischen dem gött-
lichen, ungeschriebenen Gesetz und der menschlichen Satzung, welcher
von Sophocles mit der eindringlichen Gewalt des Dichters aus-
gesprochen worden ist, durch Archelaus und Hippias eine wissen-
schaftliche Formulirung erhalten hat 1). Das göttliche Weltgesetz,
welches für die Metaphysik eines Heraklit der hervorbringende
Grund aller gesellschaftlichen Ordnung der einzelnen Staaten ge-
wesen war, wird von Hippias zu diesen Einzelordnungen in
Gegensatz gestellt. Gesetz der Natur und Satzung des einzelnen
Staates sind die Schlagworte der Zeit, und dieser Gegensatz wird
von nun an in den ganz verschiedenen Erscheinungen des geistigen
Lebens aufgesucht.

Doch war ein weit radikaleres Verhältniß zu der gesellschaft-
lichen Ordnung in dem Relativismus eines Protagoras angelegt,
und es wurde in der zweiten Generation der Sophisten
entwickelt. Nun wird die gesellschaftliche Ordnung aus dem Spiele
des Egoismus von Individuen abgeleitet, wie in der Schule
Leukipp's die Ordnung des Kosmos aus dem Spiele der Atome.

1) S. 97 ff.

Unterſcheidung der erſten und zweiten Generation der Sophiſten.
tuellen Entwicklung ſtellte andrerſeits jedes Phänomen unter den
Geſichtspunkt der Relativität. Und ſo mußte die kluge Mäßigung
der erſten Generation der Sophiſten gegenüber der geſellſchaftlichen
Ordnung Griechenlands und den religiöſen Grundlagen derſelben
ſchrittweiſe einer radikaleren Haltung Platz machen.

Zwiſchen der erſten und zweiten Generation der Sophiſten
ſteht Hippias. Auch in ſeiner Perſon ſpürt man, in einer
anderen Modifikation als in der des Protagoras oder Gorgias, die
Luft einer ganz veränderten Zeit. Virtuoſe Vielſeitigkeit, deren
intellektueller Ehrgeiz über die kleinen Politien hinausgewachſen
iſt, ſonnt ſich im Glanze einer Zeit, in welcher die Kunſt weltlich
und ein Ausdruck ſchönen Lebensbedürfniſſes, jedes wiſſenſchaftliche
Problem Gegenſtand radikaler Debatten geworden iſt und in
welcher Reichthum und Ruhm auf dem weiten Theater der
griechiſch redenden Völker in ganz neuem Maßſtab zu erwerben
waren. Ich habe dargelegt, daß der Gegenſatz zwiſchen dem gött-
lichen, ungeſchriebenen Geſetz und der menſchlichen Satzung, welcher
von Sophocles mit der eindringlichen Gewalt des Dichters aus-
geſprochen worden iſt, durch Archelaus und Hippias eine wiſſen-
ſchaftliche Formulirung erhalten hat 1). Das göttliche Weltgeſetz,
welches für die Metaphyſik eines Heraklit der hervorbringende
Grund aller geſellſchaftlichen Ordnung der einzelnen Staaten ge-
weſen war, wird von Hippias zu dieſen Einzelordnungen in
Gegenſatz geſtellt. Geſetz der Natur und Satzung des einzelnen
Staates ſind die Schlagworte der Zeit, und dieſer Gegenſatz wird
von nun an in den ganz verſchiedenen Erſcheinungen des geiſtigen
Lebens aufgeſucht.

Doch war ein weit radikaleres Verhältniß zu der geſellſchaft-
lichen Ordnung in dem Relativismus eines Protagoras angelegt,
und es wurde in der zweiten Generation der Sophiſten
entwickelt. Nun wird die geſellſchaftliche Ordnung aus dem Spiele
des Egoismus von Individuen abgeleitet, wie in der Schule
Leukipp’s die Ordnung des Kosmos aus dem Spiele der Atome.

1) S. 97 ff.
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[279/0302] Unterſcheidung der erſten und zweiten Generation der Sophiſten. tuellen Entwicklung ſtellte andrerſeits jedes Phänomen unter den Geſichtspunkt der Relativität. Und ſo mußte die kluge Mäßigung der erſten Generation der Sophiſten gegenüber der geſellſchaftlichen Ordnung Griechenlands und den religiöſen Grundlagen derſelben ſchrittweiſe einer radikaleren Haltung Platz machen. Zwiſchen der erſten und zweiten Generation der Sophiſten ſteht Hippias. Auch in ſeiner Perſon ſpürt man, in einer anderen Modifikation als in der des Protagoras oder Gorgias, die Luft einer ganz veränderten Zeit. Virtuoſe Vielſeitigkeit, deren intellektueller Ehrgeiz über die kleinen Politien hinausgewachſen iſt, ſonnt ſich im Glanze einer Zeit, in welcher die Kunſt weltlich und ein Ausdruck ſchönen Lebensbedürfniſſes, jedes wiſſenſchaftliche Problem Gegenſtand radikaler Debatten geworden iſt und in welcher Reichthum und Ruhm auf dem weiten Theater der griechiſch redenden Völker in ganz neuem Maßſtab zu erwerben waren. Ich habe dargelegt, daß der Gegenſatz zwiſchen dem gött- lichen, ungeſchriebenen Geſetz und der menſchlichen Satzung, welcher von Sophocles mit der eindringlichen Gewalt des Dichters aus- geſprochen worden iſt, durch Archelaus und Hippias eine wiſſen- ſchaftliche Formulirung erhalten hat 1). Das göttliche Weltgeſetz, welches für die Metaphyſik eines Heraklit der hervorbringende Grund aller geſellſchaftlichen Ordnung der einzelnen Staaten ge- weſen war, wird von Hippias zu dieſen Einzelordnungen in Gegenſatz geſtellt. Geſetz der Natur und Satzung des einzelnen Staates ſind die Schlagworte der Zeit, und dieſer Gegenſatz wird von nun an in den ganz verſchiedenen Erſcheinungen des geiſtigen Lebens aufgeſucht. Doch war ein weit radikaleres Verhältniß zu der geſellſchaft- lichen Ordnung in dem Relativismus eines Protagoras angelegt, und es wurde in der zweiten Generation der Sophiſten entwickelt. Nun wird die geſellſchaftliche Ordnung aus dem Spiele des Egoismus von Individuen abgeleitet, wie in der Schule Leukipp’s die Ordnung des Kosmos aus dem Spiele der Atome. 1) S. 97 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/302>, abgerufen am 25.11.2024.