Griechen zuerst einen dauernden, künstlerisch mächtigen, wissen- schaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde sie erst für die europäische politische Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb. Diese Bedeutung der politischen Literatur der Griechen ist unzer- störbar. Sie wird nur sehr vermindert durch eine Einseitigkeit ihrer politischen Auffassung, welche wir bald erörtern werden und die sich ebenfalls auf das neuere politische Leben übertragen hat.
Die ersten Anfänge dieser Literatur gewahren wir in den großen Seestädten, deren politische, soziale und intellektuelle Ent- wicklung sehr rasch verlief. Hier entstand das Bedürfniß, den mythischen Glauben an die gesellschaftliche Ordnung durch eine metaphysische Begründung zu ersetzen. Und zwar begann eine solche erste theoretische Betrachtung der Gesellschaft, indem die soziale Ordnung als solche mit dem metaphysischen Zusammen- hang des Weltganzen in Beziehung gesetzt wurde. Heraklit ist der mächtigste Repräsentant dieser metaphysischen Begründung der ge- sellschaftlichen Ordnung; aber auch die Reste der pythagoreischen Ideen deuten auf eine solche, obwohl dieselbe augenscheinlich mit mythischen Bestandtheilen sehr versetzt war.
Die griechische Auffassung der gesellschaftlichen Ordnung trat in ein neues Stadium in dem Zeitalter der Sophisten. Das Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt dieser großen intellektuellen Umwälzung. Indessen wäre es irrig, den Stand der Sophisten (mit welchem Namen zunächst ein verändertes Unterrichtssystem in Griechenland, nicht eine Ver- änderung der Philosophie bezeichnet wurde) für den Wechsel in den politischen Vorstellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich zu machen. Die Theorien der Sophisten folgen nur einer gänz- lichen Veränderung der sozialen Gefühle und sind ihr Ausdruck. Diese wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerstörung der alten Geschlechterverfassung, in welcher das Individuum noch als Bestandtheil einer Gliederung der Gesellschaft sich gefühlt hatte und von der es nach seinen wesentlichen Lebensbeziehungen umfaßt worden war. Noch die Tragödie des Aeschylus gestaltete darum
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Griechen zuerſt einen dauernden, künſtleriſch mächtigen, wiſſen- ſchaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde ſie erſt für die europäiſche politiſche Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb. Dieſe Bedeutung der politiſchen Literatur der Griechen iſt unzer- ſtörbar. Sie wird nur ſehr vermindert durch eine Einſeitigkeit ihrer politiſchen Auffaſſung, welche wir bald erörtern werden und die ſich ebenfalls auf das neuere politiſche Leben übertragen hat.
Die erſten Anfänge dieſer Literatur gewahren wir in den großen Seeſtädten, deren politiſche, ſoziale und intellektuelle Ent- wicklung ſehr raſch verlief. Hier entſtand das Bedürfniß, den mythiſchen Glauben an die geſellſchaftliche Ordnung durch eine metaphyſiſche Begründung zu erſetzen. Und zwar begann eine ſolche erſte theoretiſche Betrachtung der Geſellſchaft, indem die ſoziale Ordnung als ſolche mit dem metaphyſiſchen Zuſammen- hang des Weltganzen in Beziehung geſetzt wurde. Heraklit iſt der mächtigſte Repräſentant dieſer metaphyſiſchen Begründung der ge- ſellſchaftlichen Ordnung; aber auch die Reſte der pythagoreiſchen Ideen deuten auf eine ſolche, obwohl dieſelbe augenſcheinlich mit mythiſchen Beſtandtheilen ſehr verſetzt war.
Die griechiſche Auffaſſung der geſellſchaftlichen Ordnung trat in ein neues Stadium in dem Zeitalter der Sophiſten. Das Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt dieſer großen intellektuellen Umwälzung. Indeſſen wäre es irrig, den Stand der Sophiſten (mit welchem Namen zunächſt ein verändertes Unterrichtsſyſtem in Griechenland, nicht eine Ver- änderung der Philoſophie bezeichnet wurde) für den Wechſel in den politiſchen Vorſtellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich zu machen. Die Theorien der Sophiſten folgen nur einer gänz- lichen Veränderung der ſozialen Gefühle und ſind ihr Ausdruck. Dieſe wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerſtörung der alten Geſchlechterverfaſſung, in welcher das Individuum noch als Beſtandtheil einer Gliederung der Geſellſchaft ſich gefühlt hatte und von der es nach ſeinen weſentlichen Lebensbeziehungen umfaßt worden war. Noch die Tragödie des Aeſchylus geſtaltete darum
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Griechen zuerſt einen dauernden, künſtleriſch mächtigen, wiſſen-
ſchaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde ſie erſt für die
europäiſche politiſche Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb.
Dieſe Bedeutung der politiſchen Literatur der Griechen iſt unzer-
ſtörbar. Sie wird nur ſehr vermindert durch eine Einſeitigkeit
ihrer politiſchen Auffaſſung, welche wir bald erörtern werden und
die ſich ebenfalls auf das neuere politiſche Leben übertragen hat.
Die erſten Anfänge dieſer Literatur gewahren wir in den
großen Seeſtädten, deren politiſche, ſoziale und intellektuelle Ent-
wicklung ſehr raſch verlief. Hier entſtand das Bedürfniß, den
mythiſchen Glauben an die geſellſchaftliche Ordnung durch eine
metaphyſiſche Begründung zu erſetzen. Und zwar begann
eine ſolche erſte theoretiſche Betrachtung der Geſellſchaft, indem
die ſoziale Ordnung als ſolche mit dem metaphyſiſchen Zuſammen-
hang des Weltganzen in Beziehung geſetzt wurde. Heraklit iſt der
mächtigſte Repräſentant dieſer metaphyſiſchen Begründung der ge-
ſellſchaftlichen Ordnung; aber auch die Reſte der pythagoreiſchen
Ideen deuten auf eine ſolche, obwohl dieſelbe augenſcheinlich mit
mythiſchen Beſtandtheilen ſehr verſetzt war.
Die griechiſche Auffaſſung der geſellſchaftlichen Ordnung trat
in ein neues Stadium in dem Zeitalter der Sophiſten. Das
Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt
dieſer großen intellektuellen Umwälzung. Indeſſen wäre es irrig,
den Stand der Sophiſten (mit welchem Namen zunächſt ein
verändertes Unterrichtsſyſtem in Griechenland, nicht eine Ver-
änderung der Philoſophie bezeichnet wurde) für den Wechſel in
den politiſchen Vorſtellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich
zu machen. Die Theorien der Sophiſten folgen nur einer gänz-
lichen Veränderung der ſozialen Gefühle und ſind ihr Ausdruck.
Dieſe wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerſtörung der
alten Geſchlechterverfaſſung, in welcher das Individuum noch als
Beſtandtheil einer Gliederung der Geſellſchaft ſich gefühlt hatte und
von der es nach ſeinen weſentlichen Lebensbeziehungen umfaßt
worden war. Noch die Tragödie des Aeſchylus geſtaltete darum
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/299>, abgerufen am 18.05.2024.
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