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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Physik und sonach ihrer Metaphysik; Thun und Leiden werden
in diesem Zusammenhang der anschaulich klaren Vorstellung der
Bewegung untergeordnet 1). Und zwar führt in dem Zusammen-
hang der Welterklärung die Thatsache der Bewegung an den Sub-
stanzen zurück in die letzten erklärenden Begriffe des aristotelischen
Systems, welche in demselben eine gründliche Kausalvorstellung
und die Erkenntniß der Gesetze der Bewegung, der Veränderung
ersetzen müssen; hier wird uns später der die Zergliederung der
Wirklichkeit abschließende, aber unhaltbare Begriff von Vermögen
(dunamis) begegnen. -- Im Einzelnen sah dann Aristoteles wol
die Schwierigkeit, den Unterschied von Thun und Leiden durchweg
festzuhalten; so ist die Wahrnehmung ein Leiden, und dennoch
verwirklicht der Gesichtssinn thätig im Sehen seine Natur 2). Auch
bemerkt er die andere Schwierigkeit, Einwirkung des Wirkenden
auf das Leidende vorstellig zu machen, aber wie unzureichend ist
doch die von ihm gefundene Lösung, daß auf dem Boden des
Gemeinsamen das Verschiedene aufeinander wirke und das Thätige
sich das Leidende ähnlich mache 3).

2. So ringt Aristoteles vergeblich, Begriffe wie Substanz und
Ursache wirklich faßbar zu machen; die Schwierigkeiten aber häufen
sich, indem er nunmehr die platonische Lehre von den substan-
ialen Formen
zur Aufklärung des Weltzusammenhangs benutzt.
Wol widerlegt er die Lehre Platos von der getrennten Existenz
der Ideen siegreich; aber wird er ein anderes objektives Verhältniß
der Ideen zu den Dingen zur Klarheit bringen können?

Aristoteles erkennt der Einzelsubstanz allein Wirklichkeit in
strengem Verstande zu. Aber mit dieser Einsicht, welche dem
Naturforscher, dem gesunden Empiriker in ihm entspricht, ist das,
was er von der Ideenlehre beibehält, auf dem Standpunkt des
natürlichen Systems der Metaphysik nicht verträglich. -- Auch er

1) Phys. III, 3 p. 202 a 25 epei oun ampho kineseis vgl. de
gen. et corr. I, 7 p. 324 a 24 Metaph. VII, 4 p. 1029 b
22. In letzterer
Stelle wird kinesis als Kategorie an die Stelle von poiein und paskhein
eingesetzt.
2) de anima II, 5 p. 416 b 33.
3) Arist. de gener. et corr. I, 7 p. 323 b.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Phyſik und ſonach ihrer Metaphyſik; Thun und Leiden werden
in dieſem Zuſammenhang der anſchaulich klaren Vorſtellung der
Bewegung untergeordnet 1). Und zwar führt in dem Zuſammen-
hang der Welterklärung die Thatſache der Bewegung an den Sub-
ſtanzen zurück in die letzten erklärenden Begriffe des ariſtoteliſchen
Syſtems, welche in demſelben eine gründliche Kauſalvorſtellung
und die Erkenntniß der Geſetze der Bewegung, der Veränderung
erſetzen müſſen; hier wird uns ſpäter der die Zergliederung der
Wirklichkeit abſchließende, aber unhaltbare Begriff von Vermögen
(δύναμις) begegnen. — Im Einzelnen ſah dann Ariſtoteles wol
die Schwierigkeit, den Unterſchied von Thun und Leiden durchweg
feſtzuhalten; ſo iſt die Wahrnehmung ein Leiden, und dennoch
verwirklicht der Geſichtsſinn thätig im Sehen ſeine Natur 2). Auch
bemerkt er die andere Schwierigkeit, Einwirkung des Wirkenden
auf das Leidende vorſtellig zu machen, aber wie unzureichend iſt
doch die von ihm gefundene Löſung, daß auf dem Boden des
Gemeinſamen das Verſchiedene aufeinander wirke und das Thätige
ſich das Leidende ähnlich mache 3).

2. So ringt Ariſtoteles vergeblich, Begriffe wie Subſtanz und
Urſache wirklich faßbar zu machen; die Schwierigkeiten aber häufen
ſich, indem er nunmehr die platoniſche Lehre von den ſubſtan-
ialen Formen
zur Aufklärung des Weltzuſammenhangs benutzt.
Wol widerlegt er die Lehre Platos von der getrennten Exiſtenz
der Ideen ſiegreich; aber wird er ein anderes objektives Verhältniß
der Ideen zu den Dingen zur Klarheit bringen können?

Ariſtoteles erkennt der Einzelſubſtanz allein Wirklichkeit in
ſtrengem Verſtande zu. Aber mit dieſer Einſicht, welche dem
Naturforſcher, dem geſunden Empiriker in ihm entſpricht, iſt das,
was er von der Ideenlehre beibehält, auf dem Standpunkt des
natürlichen Syſtems der Metaphyſik nicht verträglich. — Auch er

1) Phys. III, 3 p. 202 a 25 ἐπεὶ οὖν ἄμφω κινήσεις vgl. de
gen. et corr. I, 7 p. 324 a 24 Metaph. VII, 4 p. 1029 b
22. In letzterer
Stelle wird κίνησις als Kategorie an die Stelle von ποιεῖν und πάσχειν
eingeſetzt.
2) de anima II, 5 p. 416 b 33.
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[258/0281] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Phyſik und ſonach ihrer Metaphyſik; Thun und Leiden werden in dieſem Zuſammenhang der anſchaulich klaren Vorſtellung der Bewegung untergeordnet 1). Und zwar führt in dem Zuſammen- hang der Welterklärung die Thatſache der Bewegung an den Sub- ſtanzen zurück in die letzten erklärenden Begriffe des ariſtoteliſchen Syſtems, welche in demſelben eine gründliche Kauſalvorſtellung und die Erkenntniß der Geſetze der Bewegung, der Veränderung erſetzen müſſen; hier wird uns ſpäter der die Zergliederung der Wirklichkeit abſchließende, aber unhaltbare Begriff von Vermögen (δύναμις) begegnen. — Im Einzelnen ſah dann Ariſtoteles wol die Schwierigkeit, den Unterſchied von Thun und Leiden durchweg feſtzuhalten; ſo iſt die Wahrnehmung ein Leiden, und dennoch verwirklicht der Geſichtsſinn thätig im Sehen ſeine Natur 2). Auch bemerkt er die andere Schwierigkeit, Einwirkung des Wirkenden auf das Leidende vorſtellig zu machen, aber wie unzureichend iſt doch die von ihm gefundene Löſung, daß auf dem Boden des Gemeinſamen das Verſchiedene aufeinander wirke und das Thätige ſich das Leidende ähnlich mache 3). 2. So ringt Ariſtoteles vergeblich, Begriffe wie Subſtanz und Urſache wirklich faßbar zu machen; die Schwierigkeiten aber häufen ſich, indem er nunmehr die platoniſche Lehre von den ſubſtan- ialen Formen zur Aufklärung des Weltzuſammenhangs benutzt. Wol widerlegt er die Lehre Platos von der getrennten Exiſtenz der Ideen ſiegreich; aber wird er ein anderes objektives Verhältniß der Ideen zu den Dingen zur Klarheit bringen können? Ariſtoteles erkennt der Einzelſubſtanz allein Wirklichkeit in ſtrengem Verſtande zu. Aber mit dieſer Einſicht, welche dem Naturforſcher, dem geſunden Empiriker in ihm entſpricht, iſt das, was er von der Ideenlehre beibehält, auf dem Standpunkt des natürlichen Syſtems der Metaphyſik nicht verträglich. — Auch er 1) Phys. III, 3 p. 202 a 25 ἐπεὶ οὖν ἄμφω κινήσεις vgl. de gen. et corr. I, 7 p. 324 a 24 Metaph. VII, 4 p. 1029 b 22. In letzterer Stelle wird κίνησις als Kategorie an die Stelle von ποιεῖν und πάσχειν eingeſetzt. 2) de anima II, 5 p. 416 b 33. 3) Ariſt. de gener. et corr. I, 7 p. 323 b.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/281>, abgerufen am 24.11.2024.