Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Transscendenz Platos und die des Christenthums.
getheilte Bewegung als vorübergehend. Das sind Voraussetzungen,
welche schon der Phädrus entwickelt, und dieser Psychismus stimmt
mit dem mythischen Vorstellen überein. Hieraus ergiebt sich dann
der Schluß von den regelmäßigen und konstanten Bewegungen
der Gestirne auf konstant wirkende psychische Wesenheiten als Ur-
sachen dieser Bewegungen. Solche intelligente Ursachen müssen
andrerseits aus den harmonischen mathematischen Verhältnissen
der Sphärendrehungen gefolgert werden, in welche sich die Bahnen
der Wandelsterne zerlegen lassen. Denn die Verhältnisse der Dre-
hungen nach Umfang, Richtung und Geschwindigkeit, die sich da-
mals der mechanischen Betrachtung gänzlich entzogen, werden als
Verhältnisse psychischer Wesenheiten zu einander aufgefaßt und
begreiflich gemacht. Und hierüber hinaus liegt überhaupt auf dem
ganzen Kosmos der Wiederschein der Ideen.

Die Transscendenz dieser platonischen Ideenordnung hat sich
später mit der Transscendenz der unsichtbaren Welt des Christen-
thums verschmolzen. In ihrem innersten Charakter sind beide
durchaus verschieden. Wol hat Plato die irdische Welt als ein
ihm Fremdes empfunden; aber nur insofern sie nicht der reine
Ausdruck wesenhafter Formen ist. Er flüchtet in das Reich dieser
vollkommenen Formen, und so bleibt der höchste Aufschwung seiner
Seele an den Kosmos gebunden. Die Beziehungen dieser transscen-
denten Wesenheiten zu einander sind ihm nur gedankenmäßige, ja
sie werden, wie die Beziehungen geometrischer Gebilde, durch Ver-
gleichung, Feststellung von Verschiedenheit sowie von theilweiser
Gemeinschaft erkannt. Und indem er den wirklichen Kosmos von
ihnen aus unter Vermittlung der Idee des Guten zu erklären
unternimmt, ist es, in allem mythischen Glanze, der seine Dar-
stellung umgiebt, ein von den äußeren kosmischen Bewegungs-
zusammenhängen entnommenes Schema, unter welchem er das
Wirken der Gottheit selber vorstellt: ein Weltbildner, welcher eine
Materie formt.




Dilthey, Einleitung. 16

Die Transſcendenz Platos und die des Chriſtenthums.
getheilte Bewegung als vorübergehend. Das ſind Vorausſetzungen,
welche ſchon der Phädrus entwickelt, und dieſer Pſychismus ſtimmt
mit dem mythiſchen Vorſtellen überein. Hieraus ergiebt ſich dann
der Schluß von den regelmäßigen und konſtanten Bewegungen
der Geſtirne auf konſtant wirkende pſychiſche Weſenheiten als Ur-
ſachen dieſer Bewegungen. Solche intelligente Urſachen müſſen
andrerſeits aus den harmoniſchen mathematiſchen Verhältniſſen
der Sphärendrehungen gefolgert werden, in welche ſich die Bahnen
der Wandelſterne zerlegen laſſen. Denn die Verhältniſſe der Dre-
hungen nach Umfang, Richtung und Geſchwindigkeit, die ſich da-
mals der mechaniſchen Betrachtung gänzlich entzogen, werden als
Verhältniſſe pſychiſcher Weſenheiten zu einander aufgefaßt und
begreiflich gemacht. Und hierüber hinaus liegt überhaupt auf dem
ganzen Kosmos der Wiederſchein der Ideen.

Die Transſcendenz dieſer platoniſchen Ideenordnung hat ſich
ſpäter mit der Transſcendenz der unſichtbaren Welt des Chriſten-
thums verſchmolzen. In ihrem innerſten Charakter ſind beide
durchaus verſchieden. Wol hat Plato die irdiſche Welt als ein
ihm Fremdes empfunden; aber nur inſofern ſie nicht der reine
Ausdruck weſenhafter Formen iſt. Er flüchtet in das Reich dieſer
vollkommenen Formen, und ſo bleibt der höchſte Aufſchwung ſeiner
Seele an den Kosmos gebunden. Die Beziehungen dieſer transſcen-
denten Weſenheiten zu einander ſind ihm nur gedankenmäßige, ja
ſie werden, wie die Beziehungen geometriſcher Gebilde, durch Ver-
gleichung, Feſtſtellung von Verſchiedenheit ſowie von theilweiſer
Gemeinſchaft erkannt. Und indem er den wirklichen Kosmos von
ihnen aus unter Vermittlung der Idee des Guten zu erklären
unternimmt, iſt es, in allem mythiſchen Glanze, der ſeine Dar-
ſtellung umgiebt, ein von den äußeren kosmiſchen Bewegungs-
zuſammenhängen entnommenes Schema, unter welchem er das
Wirken der Gottheit ſelber vorſtellt: ein Weltbildner, welcher eine
Materie formt.




Dilthey, Einleitung. 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0264" n="241"/><fw place="top" type="header">Die Trans&#x017F;cendenz Platos und die des Chri&#x017F;tenthums.</fw><lb/>
getheilte Bewegung als vorübergehend. Das &#x017F;ind Voraus&#x017F;etzungen,<lb/>
welche &#x017F;chon der Phädrus entwickelt, und die&#x017F;er P&#x017F;ychismus &#x017F;timmt<lb/>
mit dem mythi&#x017F;chen Vor&#x017F;tellen überein. Hieraus ergiebt &#x017F;ich dann<lb/>
der Schluß von den regelmäßigen und kon&#x017F;tanten Bewegungen<lb/>
der Ge&#x017F;tirne auf kon&#x017F;tant wirkende p&#x017F;ychi&#x017F;che We&#x017F;enheiten als Ur-<lb/>
&#x017F;achen die&#x017F;er Bewegungen. Solche intelligente Ur&#x017F;achen mü&#x017F;&#x017F;en<lb/>
andrer&#x017F;eits aus den harmoni&#x017F;chen mathemati&#x017F;chen Verhältni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
der Sphärendrehungen gefolgert werden, in welche &#x017F;ich die Bahnen<lb/>
der Wandel&#x017F;terne zerlegen la&#x017F;&#x017F;en. Denn die Verhältni&#x017F;&#x017F;e der Dre-<lb/>
hungen nach Umfang, Richtung und Ge&#x017F;chwindigkeit, die &#x017F;ich da-<lb/>
mals der mechani&#x017F;chen Betrachtung gänzlich entzogen, werden als<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;e p&#x017F;ychi&#x017F;cher We&#x017F;enheiten zu einander aufgefaßt und<lb/>
begreiflich gemacht. Und hierüber hinaus liegt überhaupt auf dem<lb/>
ganzen Kosmos der Wieder&#x017F;chein der Ideen.</p><lb/>
              <p>Die Trans&#x017F;cendenz die&#x017F;er platoni&#x017F;chen Ideenordnung hat &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;päter mit der Trans&#x017F;cendenz der un&#x017F;ichtbaren Welt des Chri&#x017F;ten-<lb/>
thums ver&#x017F;chmolzen. In ihrem inner&#x017F;ten Charakter &#x017F;ind beide<lb/>
durchaus ver&#x017F;chieden. Wol hat Plato die irdi&#x017F;che Welt als ein<lb/>
ihm Fremdes empfunden; aber nur in&#x017F;ofern &#x017F;ie nicht der reine<lb/>
Ausdruck we&#x017F;enhafter Formen i&#x017F;t. Er flüchtet in das Reich die&#x017F;er<lb/>
vollkommenen Formen, und &#x017F;o bleibt der höch&#x017F;te Auf&#x017F;chwung &#x017F;einer<lb/>
Seele an den Kosmos gebunden. Die Beziehungen die&#x017F;er trans&#x017F;cen-<lb/>
denten We&#x017F;enheiten zu einander &#x017F;ind ihm nur gedankenmäßige, ja<lb/>
&#x017F;ie werden, wie die Beziehungen geometri&#x017F;cher Gebilde, durch Ver-<lb/>
gleichung, Fe&#x017F;t&#x017F;tellung von Ver&#x017F;chiedenheit &#x017F;owie von theilwei&#x017F;er<lb/>
Gemein&#x017F;chaft erkannt. Und indem er den wirklichen Kosmos von<lb/>
ihnen aus unter Vermittlung der Idee des Guten zu erklären<lb/>
unternimmt, i&#x017F;t es, in allem mythi&#x017F;chen Glanze, der &#x017F;eine Dar-<lb/>
&#x017F;tellung umgiebt, ein von den äußeren kosmi&#x017F;chen Bewegungs-<lb/>
zu&#x017F;ammenhängen entnommenes Schema, unter welchem er das<lb/>
Wirken der Gottheit &#x017F;elber vor&#x017F;tellt: ein Weltbildner, welcher eine<lb/>
Materie formt.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
              <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Dilthey</hi>, Einleitung. 16</fw>
            </div>
          </div><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0264] Die Transſcendenz Platos und die des Chriſtenthums. getheilte Bewegung als vorübergehend. Das ſind Vorausſetzungen, welche ſchon der Phädrus entwickelt, und dieſer Pſychismus ſtimmt mit dem mythiſchen Vorſtellen überein. Hieraus ergiebt ſich dann der Schluß von den regelmäßigen und konſtanten Bewegungen der Geſtirne auf konſtant wirkende pſychiſche Weſenheiten als Ur- ſachen dieſer Bewegungen. Solche intelligente Urſachen müſſen andrerſeits aus den harmoniſchen mathematiſchen Verhältniſſen der Sphärendrehungen gefolgert werden, in welche ſich die Bahnen der Wandelſterne zerlegen laſſen. Denn die Verhältniſſe der Dre- hungen nach Umfang, Richtung und Geſchwindigkeit, die ſich da- mals der mechaniſchen Betrachtung gänzlich entzogen, werden als Verhältniſſe pſychiſcher Weſenheiten zu einander aufgefaßt und begreiflich gemacht. Und hierüber hinaus liegt überhaupt auf dem ganzen Kosmos der Wiederſchein der Ideen. Die Transſcendenz dieſer platoniſchen Ideenordnung hat ſich ſpäter mit der Transſcendenz der unſichtbaren Welt des Chriſten- thums verſchmolzen. In ihrem innerſten Charakter ſind beide durchaus verſchieden. Wol hat Plato die irdiſche Welt als ein ihm Fremdes empfunden; aber nur inſofern ſie nicht der reine Ausdruck weſenhafter Formen iſt. Er flüchtet in das Reich dieſer vollkommenen Formen, und ſo bleibt der höchſte Aufſchwung ſeiner Seele an den Kosmos gebunden. Die Beziehungen dieſer transſcen- denten Weſenheiten zu einander ſind ihm nur gedankenmäßige, ja ſie werden, wie die Beziehungen geometriſcher Gebilde, durch Ver- gleichung, Feſtſtellung von Verſchiedenheit ſowie von theilweiſer Gemeinſchaft erkannt. Und indem er den wirklichen Kosmos von ihnen aus unter Vermittlung der Idee des Guten zu erklären unternimmt, iſt es, in allem mythiſchen Glanze, der ſeine Dar- ſtellung umgiebt, ein von den äußeren kosmiſchen Bewegungs- zuſammenhängen entnommenes Schema, unter welchem er das Wirken der Gottheit ſelber vorſtellt: ein Weltbildner, welcher eine Materie formt. Dilthey, Einleitung. 16

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/264
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/264>, abgerufen am 18.05.2024.