im Menschen, welcher unabhängig von der Erfahrung in ihm sei, aus der Wissenschaft seiner Zeit und seiner Schule, der Mathematik, und auch in diesem Punkte ist er der Vorgänger Kant's. Drastisch zeigt der Dialog Meno, wie mathematische Wahrheit nicht erworben, sondern in ihr nur eine vorhandene innere Anschauung entwickelt wird 1). Die Bedingung dieses Thatbestandes ist für Plato die transscendente Berührung der Seele mit den Ideen, und diese Lehre Platos tritt als Versuch der Erklärung für den von der äußeren Wahrnehmung unabhängigen Inhalt unseres geistigen Lebens, hier zunächst unserer Intelligenz, neben die Theorie von Kant.
Der Thatbestand, um welchen es sich handelt, wird von Kant auf eine Form des Geistes, der Intelligenz wie des Willens zu- rückgeführt. Dies ist im Grunde gar nicht vorstellbar. Aus einer bloßen Form des Denkens kann eine inhaltliche Bestimmung unmöglich entstehen; die Ursache, das Gute sind aber augenschein- lich solche inhaltliche Bestimmungen. Und wäre die Verhältniß- vorstellung der Kausalität oder der Substanz in einer Form unserer Intelligenz gegründet, wie etwa die von Gleichheit oder Verschiedenheit ist, so müßte sie ebenso eindeutig bestimmt und der Intelligenz durchsichtig als diese sein Daher enthält Platos Lehre zunächst eine auch Kant gegenüber haltbare Wahrheit.
Hier aber tritt andrerseits die Grenze des griechischen Geistes her- vor. Die wahre Natur der inneren Erfahrung war noch nicht in seinem Gesichtskreis. Für den griechischen Geist ist alles Erkennen eine Art von Erblicken; für ihn beziehen sich theoretisches wie praktisches Verhalten auf ein der Anschauung gegenüberstehendes Sein und haben dasselbe zur Voraussetzung; ihm ist sonach das Erkennen so gut als das Handeln Berührung der Intelligenz mit etwas außer ihr, und zwar das Erkennen eine Aufnahme dieses ihm Gegenüberstehenden.
Und hierbei ist es gleich, ob die Stellung des Subjekts eine skeptische oder dogmatische ist: der griechische Geist faßt Erkennen
1) Meno 82 ff. vgl. Phädo 72 ff.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
im Menſchen, welcher unabhängig von der Erfahrung in ihm ſei, aus der Wiſſenſchaft ſeiner Zeit und ſeiner Schule, der Mathematik, und auch in dieſem Punkte iſt er der Vorgänger Kant’s. Draſtiſch zeigt der Dialog Meno, wie mathematiſche Wahrheit nicht erworben, ſondern in ihr nur eine vorhandene innere Anſchauung entwickelt wird 1). Die Bedingung dieſes Thatbeſtandes iſt für Plato die transſcendente Berührung der Seele mit den Ideen, und dieſe Lehre Platos tritt als Verſuch der Erklärung für den von der äußeren Wahrnehmung unabhängigen Inhalt unſeres geiſtigen Lebens, hier zunächſt unſerer Intelligenz, neben die Theorie von Kant.
Der Thatbeſtand, um welchen es ſich handelt, wird von Kant auf eine Form des Geiſtes, der Intelligenz wie des Willens zu- rückgeführt. Dies iſt im Grunde gar nicht vorſtellbar. Aus einer bloßen Form des Denkens kann eine inhaltliche Beſtimmung unmöglich entſtehen; die Urſache, das Gute ſind aber augenſchein- lich ſolche inhaltliche Beſtimmungen. Und wäre die Verhältniß- vorſtellung der Kauſalität oder der Subſtanz in einer Form unſerer Intelligenz gegründet, wie etwa die von Gleichheit oder Verſchiedenheit iſt, ſo müßte ſie ebenſo eindeutig beſtimmt und der Intelligenz durchſichtig als dieſe ſein Daher enthält Platos Lehre zunächſt eine auch Kant gegenüber haltbare Wahrheit.
Hier aber tritt andrerſeits die Grenze des griechiſchen Geiſtes her- vor. Die wahre Natur der inneren Erfahrung war noch nicht in ſeinem Geſichtskreis. Für den griechiſchen Geiſt iſt alles Erkennen eine Art von Erblicken; für ihn beziehen ſich theoretiſches wie praktiſches Verhalten auf ein der Anſchauung gegenüberſtehendes Sein und haben daſſelbe zur Vorausſetzung; ihm iſt ſonach das Erkennen ſo gut als das Handeln Berührung der Intelligenz mit etwas außer ihr, und zwar das Erkennen eine Aufnahme dieſes ihm Gegenüberſtehenden.
Und hierbei iſt es gleich, ob die Stellung des Subjekts eine ſkeptiſche oder dogmatiſche iſt: der griechiſche Geiſt faßt Erkennen
1) Meno 82 ff. vgl. Phädo 72 ff.
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
im Menſchen, welcher unabhängig von der Erfahrung
in ihm ſei, aus der Wiſſenſchaft ſeiner Zeit und ſeiner Schule,
der Mathematik, und auch in dieſem Punkte iſt er der Vorgänger
Kant’s. Draſtiſch zeigt der Dialog Meno, wie mathematiſche
Wahrheit nicht erworben, ſondern in ihr nur eine vorhandene
innere Anſchauung entwickelt wird 1). Die Bedingung dieſes
Thatbeſtandes iſt für Plato die transſcendente Berührung
der Seele mit den Ideen, und dieſe Lehre Platos tritt als
Verſuch der Erklärung für den von der äußeren Wahrnehmung
unabhängigen Inhalt unſeres geiſtigen Lebens, hier zunächſt
unſerer Intelligenz, neben die Theorie von Kant.
Der Thatbeſtand, um welchen es ſich handelt, wird von Kant
auf eine Form des Geiſtes, der Intelligenz wie des Willens zu-
rückgeführt. Dies iſt im Grunde gar nicht vorſtellbar. Aus einer
bloßen Form des Denkens kann eine inhaltliche Beſtimmung
unmöglich entſtehen; die Urſache, das Gute ſind aber augenſchein-
lich ſolche inhaltliche Beſtimmungen. Und wäre die Verhältniß-
vorſtellung der Kauſalität oder der Subſtanz in einer Form
unſerer Intelligenz gegründet, wie etwa die von Gleichheit oder
Verſchiedenheit iſt, ſo müßte ſie ebenſo eindeutig beſtimmt und der
Intelligenz durchſichtig als dieſe ſein Daher enthält Platos Lehre
zunächſt eine auch Kant gegenüber haltbare Wahrheit.
Hier aber tritt andrerſeits die Grenze des griechiſchen Geiſtes her-
vor. Die wahre Natur der inneren Erfahrung war noch nicht in ſeinem
Geſichtskreis. Für den griechiſchen Geiſt iſt alles Erkennen
eine Art von Erblicken; für ihn beziehen ſich theoretiſches wie
praktiſches Verhalten auf ein der Anſchauung gegenüberſtehendes
Sein und haben daſſelbe zur Vorausſetzung; ihm iſt ſonach das
Erkennen ſo gut als das Handeln Berührung der Intelligenz mit
etwas außer ihr, und zwar das Erkennen eine Aufnahme dieſes
ihm Gegenüberſtehenden.
Und hierbei iſt es gleich, ob die Stellung des Subjekts eine
ſkeptiſche oder dogmatiſche iſt: der griechiſche Geiſt faßt Erkennen
1) Meno 82 ff. vgl. Phädo 72 ff.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/259>, abgerufen am 17.02.2025.
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