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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Qualitäten außer Dichtigkeit, Härte und Schwere der Sinnes-
empfindung zugewiesen und den Objekten abgesprochen 1). Eine
solche Betrachtungsweise mußte dem mit den sinnlichen Objekten
beschäftigten Verstande zusagen, wenn sie auch zunächst nur den
Werth einer Metaphysik hatte, so lange ihre Anwendbarkeit auf
die Probleme der Naturwissenschaft noch eine so geringe war.
Daher ist sie, nachdem sie einmal da war, dem griechischen Denken
nicht wieder verloren gegangen.

Aber diese atomistische Theorie konnte andrerseits zu der Zeit
des Leukipp und Demokrit nicht zur Herrschaft gelangen, da die
Bedingungen für ihre Verwerthung zur Erklärung
der Phänomene fehlten
. Die Bewegungen der Massen im
Weltraum bildeten das Hauptproblem der Naturwissenschaft jener
Tage, und seit dem Auftreten des Anaxagoras war immer mehr
die Untersuchung der Planeten in den Vordergrund getreten.
Trotzdem lehnt sich Demokrit in entscheidenden Punkten der
astronomischen Konstruktion noch an Anaxagoras an, dessen Theorie
sich doch als nicht ausreichend erweisen mußte. Ja Demokrit
besaß überhaupt in seinen Voraussetzungen keine Mittel astrono-
mischer Erklärung.

Nimmt man an 2), er habe den Fall der Atome im leeren
Raume von oben nach unten in Folge ihrer Schwere und

1) An diesem wichtigen Punkte kam Protagoras der genaueren Be-
gründung der Atomistik zu Hilfe.
2) So Zeller I3 779. 791, dessen Auffassung bestimmend gewesen ist
(z. B. Lange, Geschichte des Materialismus I2, 38 ff.). Ich kann nur andeuten,
warum seine Gründe mich nicht überzeugen. Die Stellen Arist. de caelo
IV, 2 p. 308 b 35,
Theophrast de sensibus 61. 71 (Diels 516 ff.) erweisen
nur die im Text angegebenen Sätze über Atomverbindungen. Aber man
ist nicht berechtigt, Gewicht und senkrechten Fall von diesen zusammenge-
setzten Körpern auf das Verhalten der im dinos kreisenden Atome zu
übertragen. Vermeidet man dies, so sind solche Stellen in Einklang mit
denen, welche den senkrechten Fall der Atome als Anfangszustand aus-
schließen und als solchen den dinos statuiren: Arist. de caelo III, 2
p. 300 b 8. Metaph. I, 4 p. 985 b 19
. Theophrast bei Simplic. in
phys. f. 7 r 6
ff. (Diels 483 f.) Diogenes Laert. IX, 44. 45. Plutarch
plac. I, 23 mit Parallelst. (Tiels 319) Epicur. ep. 2 bei Diogen. Laert.
X, 90. Cicero de fato 20, 46.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Qualitäten außer Dichtigkeit, Härte und Schwere der Sinnes-
empfindung zugewieſen und den Objekten abgeſprochen 1). Eine
ſolche Betrachtungsweiſe mußte dem mit den ſinnlichen Objekten
beſchäftigten Verſtande zuſagen, wenn ſie auch zunächſt nur den
Werth einer Metaphyſik hatte, ſo lange ihre Anwendbarkeit auf
die Probleme der Naturwiſſenſchaft noch eine ſo geringe war.
Daher iſt ſie, nachdem ſie einmal da war, dem griechiſchen Denken
nicht wieder verloren gegangen.

Aber dieſe atomiſtiſche Theorie konnte andrerſeits zu der Zeit
des Leukipp und Demokrit nicht zur Herrſchaft gelangen, da die
Bedingungen für ihre Verwerthung zur Erklärung
der Phänomene fehlten
. Die Bewegungen der Maſſen im
Weltraum bildeten das Hauptproblem der Naturwiſſenſchaft jener
Tage, und ſeit dem Auftreten des Anaxagoras war immer mehr
die Unterſuchung der Planeten in den Vordergrund getreten.
Trotzdem lehnt ſich Demokrit in entſcheidenden Punkten der
aſtronomiſchen Konſtruktion noch an Anaxagoras an, deſſen Theorie
ſich doch als nicht ausreichend erweiſen mußte. Ja Demokrit
beſaß überhaupt in ſeinen Vorausſetzungen keine Mittel aſtrono-
miſcher Erklärung.

Nimmt man an 2), er habe den Fall der Atome im leeren
Raume von oben nach unten in Folge ihrer Schwere und

1) An dieſem wichtigen Punkte kam Protagoras der genaueren Be-
gründung der Atomiſtik zu Hilfe.
2) So Zeller I3 779. 791, deſſen Auffaſſung beſtimmend geweſen iſt
(z. B. Lange, Geſchichte des Materialismus I2, 38 ff.). Ich kann nur andeuten,
warum ſeine Gründe mich nicht überzeugen. Die Stellen Ariſt. de caelo
IV, 2 p. 308 b 35,
Theophraſt de sensibus 61. 71 (Diels 516 ff.) erweiſen
nur die im Text angegebenen Sätze über Atomverbindungen. Aber man
iſt nicht berechtigt, Gewicht und ſenkrechten Fall von dieſen zuſammenge-
ſetzten Körpern auf das Verhalten der im δῖνος kreiſenden Atome zu
übertragen. Vermeidet man dies, ſo ſind ſolche Stellen in Einklang mit
denen, welche den ſenkrechten Fall der Atome als Anfangszuſtand aus-
ſchließen und als ſolchen den δῖνος ſtatuiren: Ariſt. de caelo III, 2
p. 300 b 8. Metaph. I, 4 p. 985 b 19
. Theophraſt bei Simplic. in
phys. f. 7 r 6
ff. (Diels 483 f.) Diogenes Laert. IX, 44. 45. Plutarch
plac. I, 23 mit Parallelſt. (Tiels 319) Epicur. ep. 2 bei Diogen. Laert.
X, 90. Cicero de fato 20, 46.
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[214/0237] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Qualitäten außer Dichtigkeit, Härte und Schwere der Sinnes- empfindung zugewieſen und den Objekten abgeſprochen 1). Eine ſolche Betrachtungsweiſe mußte dem mit den ſinnlichen Objekten beſchäftigten Verſtande zuſagen, wenn ſie auch zunächſt nur den Werth einer Metaphyſik hatte, ſo lange ihre Anwendbarkeit auf die Probleme der Naturwiſſenſchaft noch eine ſo geringe war. Daher iſt ſie, nachdem ſie einmal da war, dem griechiſchen Denken nicht wieder verloren gegangen. Aber dieſe atomiſtiſche Theorie konnte andrerſeits zu der Zeit des Leukipp und Demokrit nicht zur Herrſchaft gelangen, da die Bedingungen für ihre Verwerthung zur Erklärung der Phänomene fehlten. Die Bewegungen der Maſſen im Weltraum bildeten das Hauptproblem der Naturwiſſenſchaft jener Tage, und ſeit dem Auftreten des Anaxagoras war immer mehr die Unterſuchung der Planeten in den Vordergrund getreten. Trotzdem lehnt ſich Demokrit in entſcheidenden Punkten der aſtronomiſchen Konſtruktion noch an Anaxagoras an, deſſen Theorie ſich doch als nicht ausreichend erweiſen mußte. Ja Demokrit beſaß überhaupt in ſeinen Vorausſetzungen keine Mittel aſtrono- miſcher Erklärung. Nimmt man an 2), er habe den Fall der Atome im leeren Raume von oben nach unten in Folge ihrer Schwere und 1) An dieſem wichtigen Punkte kam Protagoras der genaueren Be- gründung der Atomiſtik zu Hilfe. 2) So Zeller I3 779. 791, deſſen Auffaſſung beſtimmend geweſen iſt (z. B. Lange, Geſchichte des Materialismus I2, 38 ff.). Ich kann nur andeuten, warum ſeine Gründe mich nicht überzeugen. Die Stellen Ariſt. de caelo IV, 2 p. 308 b 35, Theophraſt de sensibus 61. 71 (Diels 516 ff.) erweiſen nur die im Text angegebenen Sätze über Atomverbindungen. Aber man iſt nicht berechtigt, Gewicht und ſenkrechten Fall von dieſen zuſammenge- ſetzten Körpern auf das Verhalten der im δῖνος kreiſenden Atome zu übertragen. Vermeidet man dies, ſo ſind ſolche Stellen in Einklang mit denen, welche den ſenkrechten Fall der Atome als Anfangszuſtand aus- ſchließen und als ſolchen den δῖνος ſtatuiren: Ariſt. de caelo III, 2 p. 300 b 8. Metaph. I, 4 p. 985 b 19. Theophraſt bei Simplic. in phys. f. 7 r 6 ff. (Diels 483 f.) Diogenes Laert. IX, 44. 45. Plutarch plac. I, 23 mit Parallelſt. (Tiels 319) Epicur. ep. 2 bei Diogen. Laert. X, 90. Cicero de fato 20, 46.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/237>, abgerufen am 25.11.2024.