Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite
Parmenides.

Diese Sätze enthalten allerdings das Denkgesetz des Wider-
spruchs in metaphysischer Fassung im Keime; aber ihre Tragweite
reicht hierüber hinaus. In ihnen ist der Befund des Bewußt-
seinszusammenhangs, in welchem mit dem Subjekt das Objekt
untrennbar verbunden ist und das Objekt den Charakter substan-
tialer Festigkeit besitzt, in unentwickeltem Tiefsinn ausgesprochen.

Und so sind diese Sätze einerseits die zureichende Grund-
lage für Wahrheiten
, welche nun das griechische Denken zu-
nächst den mathematischen hinzufügte und welche den Uebergang
von den letzteren zu einer wissenschaftlichen Betrachtung des Kos-
mos ermöglichten; sie sind andrerseits in der Dunkelheit, in
welcher sie dem Bewußtsein zuerst aufgehen, der Ausgangs-
punkt für überspannte Anforderungen des Denkens

an die allgemeinsten Eigenschaften des Weltzusammenhangs.

Diese in den oben angegebenen Sätzen des Parmenides im-
plicite
enthaltenen Wahrheiten sind einfach. Die erste liegt
in der Auffassung der Eigenschaft unsres Bewußtseinszusammen-
hangs, welche Aristoteles in seiner Formel vom Satze des
Widerspruchs
in eine genauer bestimmte und dadurch halt-
bar gewordene Gestalt brachte. Die andere liegt in dem physischen
Satze: es giebt kein Entstehen und keinen Unter-
gang
1); von dem wahrhaft Seienden ist Entstehen und Unter-
gang auszuschließen; denn aus dem Nichtseienden kann Sein
nicht entstehen, da dasselbe eben nicht ist, das Seiende aber würde
nichts Anderes als sich selber erzeugen. Auch dieser Satz hat erst
später, zunächst durch Anaxagoras und Demokrit, eine genauer
eingeschränkte, haltbare Gestalt empfangen. Die beiden Sätze, von
der Unbestimmtheit und den Uebertreibungen befreit, die ihnen bei

aber auch kaum dem Gedanken des Parmenides. Und der Sinn des Aus-
spruchs wird sichergestellt durch v. 94 touton desti noein te kai ouneken
esti noema und die sich anschließende Begründung.
1) Wir verzeichnen die älteste Fassung dieses Gedankens, welcher für
die Naturwissenschaft so wichtig wurde, Parmenides v. 77 (bei Mullach fr.
phil. graec. I,
121) tos genesis men apesbestai kai apistos olethros.
und v. 69 touneken oute genesthai out ollusthai aneke dike.
13*
Parmenides.

Dieſe Sätze enthalten allerdings das Denkgeſetz des Wider-
ſpruchs in metaphyſiſcher Faſſung im Keime; aber ihre Tragweite
reicht hierüber hinaus. In ihnen iſt der Befund des Bewußt-
ſeinszuſammenhangs, in welchem mit dem Subjekt das Objekt
untrennbar verbunden iſt und das Objekt den Charakter ſubſtan-
tialer Feſtigkeit beſitzt, in unentwickeltem Tiefſinn ausgeſprochen.

Und ſo ſind dieſe Sätze einerſeits die zureichende Grund-
lage für Wahrheiten
, welche nun das griechiſche Denken zu-
nächſt den mathematiſchen hinzufügte und welche den Uebergang
von den letzteren zu einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Kos-
mos ermöglichten; ſie ſind andrerſeits in der Dunkelheit, in
welcher ſie dem Bewußtſein zuerſt aufgehen, der Ausgangs-
punkt für überſpannte Anforderungen des Denkens

an die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs.

Dieſe in den oben angegebenen Sätzen des Parmenides im-
plicite
enthaltenen Wahrheiten ſind einfach. Die erſte liegt
in der Auffaſſung der Eigenſchaft unſres Bewußtſeinszuſammen-
hangs, welche Ariſtoteles in ſeiner Formel vom Satze des
Widerſpruchs
in eine genauer beſtimmte und dadurch halt-
bar gewordene Geſtalt brachte. Die andere liegt in dem phyſiſchen
Satze: es giebt kein Entſtehen und keinen Unter-
gang
1); von dem wahrhaft Seienden iſt Entſtehen und Unter-
gang auszuſchließen; denn aus dem Nichtſeienden kann Sein
nicht entſtehen, da daſſelbe eben nicht iſt, das Seiende aber würde
nichts Anderes als ſich ſelber erzeugen. Auch dieſer Satz hat erſt
ſpäter, zunächſt durch Anaxagoras und Demokrit, eine genauer
eingeſchränkte, haltbare Geſtalt empfangen. Die beiden Sätze, von
der Unbeſtimmtheit und den Uebertreibungen befreit, die ihnen bei

aber auch kaum dem Gedanken des Parmenides. Und der Sinn des Aus-
ſpruchs wird ſichergeſtellt durch v. 94 τωὐτὸν δ̕ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν
ἐστι νόημα und die ſich anſchließende Begründung.
1) Wir verzeichnen die älteſte Faſſung dieſes Gedankens, welcher für
die Naturwiſſenſchaft ſo wichtig wurde, Parmenides v. 77 (bei Mullach fr.
phil. graec. I,
121) τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται καὶ ἄπιστος ὄλεϑϱος.
und v. 69 τοὔνεκεν οὔτε γενέσϑαι οὔτ̕ ὄλλυσϑαι ἀνῆκε δίκη.
13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0218" n="195"/>
            <fw place="top" type="header">Parmenides.</fw><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Sätze enthalten allerdings das Denkge&#x017F;etz des Wider-<lb/>
&#x017F;pruchs in metaphy&#x017F;i&#x017F;cher Fa&#x017F;&#x017F;ung im Keime; aber ihre Tragweite<lb/>
reicht hierüber hinaus. In ihnen i&#x017F;t der Befund des Bewußt-<lb/>
&#x017F;einszu&#x017F;ammenhangs, in welchem mit dem Subjekt das Objekt<lb/>
untrennbar verbunden i&#x017F;t und das Objekt den Charakter &#x017F;ub&#x017F;tan-<lb/>
tialer Fe&#x017F;tigkeit be&#x017F;itzt, in unentwickeltem Tief&#x017F;inn ausge&#x017F;prochen.</p><lb/>
            <p>Und &#x017F;o &#x017F;ind die&#x017F;e Sätze einer&#x017F;eits die <hi rendition="#g">zureichende Grund-<lb/>
lage für Wahrheiten</hi>, welche nun das griechi&#x017F;che Denken zu-<lb/>
näch&#x017F;t den mathemati&#x017F;chen hinzufügte und welche den Uebergang<lb/>
von den letzteren zu einer wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Betrachtung des Kos-<lb/>
mos ermöglichten; &#x017F;ie &#x017F;ind andrer&#x017F;eits in der Dunkelheit, in<lb/>
welcher &#x017F;ie dem Bewußt&#x017F;ein zuer&#x017F;t aufgehen, der <hi rendition="#g">Ausgangs-<lb/>
punkt für über&#x017F;pannte Anforderungen des Denkens</hi><lb/>
an die allgemein&#x017F;ten Eigen&#x017F;chaften des Weltzu&#x017F;ammenhangs.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e in den oben angegebenen Sätzen des Parmenides <hi rendition="#aq">im-<lb/>
plicite</hi> enthaltenen <hi rendition="#g">Wahrheiten</hi> &#x017F;ind einfach. Die er&#x017F;te liegt<lb/>
in der Auffa&#x017F;&#x017F;ung der Eigen&#x017F;chaft un&#x017F;res Bewußt&#x017F;einszu&#x017F;ammen-<lb/>
hangs, welche Ari&#x017F;toteles in &#x017F;einer Formel vom <hi rendition="#g">Satze des<lb/>
Wider&#x017F;pruchs</hi> in eine genauer be&#x017F;timmte und dadurch halt-<lb/>
bar gewordene Ge&#x017F;talt brachte. Die andere liegt in dem phy&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Satze: <hi rendition="#g">es giebt kein Ent&#x017F;tehen und keinen Unter-<lb/>
gang</hi> <note place="foot" n="1)">Wir verzeichnen die älte&#x017F;te Fa&#x017F;&#x017F;ung die&#x017F;es Gedankens, welcher für<lb/>
die Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;o wichtig wurde, Parmenides <hi rendition="#aq">v.</hi> 77 (bei Mullach <hi rendition="#aq">fr.<lb/>
phil. graec. I,</hi> 121) &#x03C4;&#x1F7C;&#x03C2; &#x03B3;&#x03AD;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C3;&#x03B9;&#x03C2; &#x03BC;&#x1F72;&#x03BD; &#x1F00;&#x03C0;&#x03AD;&#x03C3;&#x03B2;&#x03B5;&#x03C3;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F04;&#x03C0;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F44;&#x03BB;&#x03B5;&#x03D1;&#x03F1;&#x03BF;&#x03C2;.<lb/>
und <hi rendition="#aq">v.</hi> 69 &#x03C4;&#x03BF;&#x1F54;&#x03BD;&#x03B5;&#x03BA;&#x03B5;&#x03BD; &#x03BF;&#x1F54;&#x03C4;&#x03B5; &#x03B3;&#x03B5;&#x03BD;&#x03AD;&#x03C3;&#x03D1;&#x03B1;&#x03B9; &#x03BF;&#x1F54;&#x03C4;&#x0315; &#x1F44;&#x03BB;&#x03BB;&#x03C5;&#x03C3;&#x03D1;&#x03B1;&#x03B9; &#x1F00;&#x03BD;&#x1FC6;&#x03BA;&#x03B5; &#x03B4;&#x03AF;&#x03BA;&#x03B7;.</note>; von dem wahrhaft Seienden i&#x017F;t Ent&#x017F;tehen und Unter-<lb/>
gang auszu&#x017F;chließen; denn aus dem Nicht&#x017F;eienden kann Sein<lb/>
nicht ent&#x017F;tehen, da da&#x017F;&#x017F;elbe eben nicht i&#x017F;t, das Seiende aber würde<lb/>
nichts Anderes als &#x017F;ich &#x017F;elber erzeugen. Auch die&#x017F;er Satz hat er&#x017F;t<lb/>
&#x017F;päter, zunäch&#x017F;t durch Anaxagoras und Demokrit, eine genauer<lb/>
einge&#x017F;chränkte, haltbare Ge&#x017F;talt empfangen. Die beiden Sätze, von<lb/>
der Unbe&#x017F;timmtheit und den Uebertreibungen befreit, die ihnen bei<lb/><note xml:id="note-0218" prev="#note-0217" place="foot" n="2)">aber auch kaum dem Gedanken des Parmenides. Und der Sinn des Aus-<lb/>
&#x017F;pruchs wird &#x017F;icherge&#x017F;tellt durch <hi rendition="#aq">v.</hi> 94 &#x03C4;&#x03C9;&#x1F50;&#x03C4;&#x1F78;&#x03BD; &#x03B4;&#x0315;&#x1F10;&#x03C3;&#x03C4;&#x1F76; &#x03BD;&#x03BF;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03BD; &#x03C4;&#x03B5; &#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x03BF;&#x1F55;&#x03BD;&#x03B5;&#x03BA;&#x03AD;&#x03BD;<lb/>
&#x1F10;&#x03C3;&#x03C4;&#x03B9; &#x03BD;&#x03CC;&#x03B7;&#x03BC;&#x03B1; und die &#x017F;ich an&#x017F;chließende Begründung.</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0218] Parmenides. Dieſe Sätze enthalten allerdings das Denkgeſetz des Wider- ſpruchs in metaphyſiſcher Faſſung im Keime; aber ihre Tragweite reicht hierüber hinaus. In ihnen iſt der Befund des Bewußt- ſeinszuſammenhangs, in welchem mit dem Subjekt das Objekt untrennbar verbunden iſt und das Objekt den Charakter ſubſtan- tialer Feſtigkeit beſitzt, in unentwickeltem Tiefſinn ausgeſprochen. Und ſo ſind dieſe Sätze einerſeits die zureichende Grund- lage für Wahrheiten, welche nun das griechiſche Denken zu- nächſt den mathematiſchen hinzufügte und welche den Uebergang von den letzteren zu einer wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Kos- mos ermöglichten; ſie ſind andrerſeits in der Dunkelheit, in welcher ſie dem Bewußtſein zuerſt aufgehen, der Ausgangs- punkt für überſpannte Anforderungen des Denkens an die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs. Dieſe in den oben angegebenen Sätzen des Parmenides im- plicite enthaltenen Wahrheiten ſind einfach. Die erſte liegt in der Auffaſſung der Eigenſchaft unſres Bewußtſeinszuſammen- hangs, welche Ariſtoteles in ſeiner Formel vom Satze des Widerſpruchs in eine genauer beſtimmte und dadurch halt- bar gewordene Geſtalt brachte. Die andere liegt in dem phyſiſchen Satze: es giebt kein Entſtehen und keinen Unter- gang 1); von dem wahrhaft Seienden iſt Entſtehen und Unter- gang auszuſchließen; denn aus dem Nichtſeienden kann Sein nicht entſtehen, da daſſelbe eben nicht iſt, das Seiende aber würde nichts Anderes als ſich ſelber erzeugen. Auch dieſer Satz hat erſt ſpäter, zunächſt durch Anaxagoras und Demokrit, eine genauer eingeſchränkte, haltbare Geſtalt empfangen. Die beiden Sätze, von der Unbeſtimmtheit und den Uebertreibungen befreit, die ihnen bei 2) 1) Wir verzeichnen die älteſte Faſſung dieſes Gedankens, welcher für die Naturwiſſenſchaft ſo wichtig wurde, Parmenides v. 77 (bei Mullach fr. phil. graec. I, 121) τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται καὶ ἄπιστος ὄλεϑϱος. und v. 69 τοὔνεκεν οὔτε γενέσϑαι οὔτ̕ ὄλλυσϑαι ἀνῆκε δίκη. 2) aber auch kaum dem Gedanken des Parmenides. Und der Sinn des Aus- ſpruchs wird ſichergeſtellt durch v. 94 τωὐτὸν δ̕ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν ἐστι νόημα und die ſich anſchließende Begründung. 13*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/218
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/218>, abgerufen am 25.11.2024.