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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Unterscheidung der Religion vom mythischen Vorstellen.

Indem wir diese Grenzen des historischen Erkennens ein-
halten, ist uns innerhalb ihrer zunächst durch das Verhältniß von
Nebeneinanderbestehen und Aufeinanderfolge der großen Thatsachen
des geistigen Lebens eine Unterscheidung von Mythos und
Religion
gegeben. Der Mangel derselben ist der erste Grund der
Fehlerhaftigkeit des Comte'schen Gesetzes. Das religiöse Erlebniß
steht zu dem Mythos und der Theologie, der Metaphysik und der
Selbstbesinnung in einem viel verwickelteren Verhältniß, als Comte
angenommen hat. Hievon überzeugt uns die Betrachtung des gegen-
wärtigen geistigen Zustandes; mußte doch Comte an seinem eignen
System im 19. Jahrhundert die Erfahrung machen, daß dasselbe
über die zweite Stufe der Metaphysik in den Geisteswissenschaften
nicht hinauskam, schließlich aber durch eine Art von wissenschaft-
lichem Atavismus auf die erste, die theologische Stufe zurücksank.
Deutlicher noch spricht die Geschichte gegen Comte. Der Zeitraum
der Alleinherrschaft mythischen Vorstellens ging bei den griechischen
Stämmen vorüber; aber das religiöse Leben blieb und fuhr fort
wirksam zu sein. Die Wissenschaft erwachte langsam; das my-
thische Vorstellen bestand neben ihr fort, und, wo das religiöse
Leben den herrschenden Mittelpunkt der Interessen bildete, bediente
es sich mancher von der Wissenschaft entwickelter Sätze. Ja jetzt
geschah es, daß das religiöse Leben in tief von ihm bewegten
Naturen, wie Xenophanes, Heraklit, Parmenides waren, an dem
metaphysischen Denken eine neue Sprache fand. Es überlebte
aber auch diese Art seines Ausdrucks. Denn auch die Meta-
physik ist vergänglich, und die Selbstbesinnung, welche die Me-
taphysik auflöst, findet in ihrer Tiefe abermals -- das religiöse
Erlebniß.

So zeigt das empirische Verhältniß von Zusammenbestehen
und Aufeinanderfolge der großen Thatsachen, die in der Geschichte
der Intelligenz verwebt sind: das religiöse Leben ist ein
Thatbestand, welcher gleicherweise mit dem mythischen
Vorstellen
wie mit der Metaphysik und mit der Selbst-
besinnung verbunden
ist. Dasselbe muß, wie eng auch die
Art seiner Verbindung mit diesen letzteren Erscheinungen sein mag,

Unterſcheidung der Religion vom mythiſchen Vorſtellen.

Indem wir dieſe Grenzen des hiſtoriſchen Erkennens ein-
halten, iſt uns innerhalb ihrer zunächſt durch das Verhältniß von
Nebeneinanderbeſtehen und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen
des geiſtigen Lebens eine Unterſcheidung von Mythos und
Religion
gegeben. Der Mangel derſelben iſt der erſte Grund der
Fehlerhaftigkeit des Comte’ſchen Geſetzes. Das religiöſe Erlebniß
ſteht zu dem Mythos und der Theologie, der Metaphyſik und der
Selbſtbeſinnung in einem viel verwickelteren Verhältniß, als Comte
angenommen hat. Hievon überzeugt uns die Betrachtung des gegen-
wärtigen geiſtigen Zuſtandes; mußte doch Comte an ſeinem eignen
Syſtem im 19. Jahrhundert die Erfahrung machen, daß daſſelbe
über die zweite Stufe der Metaphyſik in den Geiſteswiſſenſchaften
nicht hinauskam, ſchließlich aber durch eine Art von wiſſenſchaft-
lichem Atavismus auf die erſte, die theologiſche Stufe zurückſank.
Deutlicher noch ſpricht die Geſchichte gegen Comte. Der Zeitraum
der Alleinherrſchaft mythiſchen Vorſtellens ging bei den griechiſchen
Stämmen vorüber; aber das religiöſe Leben blieb und fuhr fort
wirkſam zu ſein. Die Wiſſenſchaft erwachte langſam; das my-
thiſche Vorſtellen beſtand neben ihr fort, und, wo das religiöſe
Leben den herrſchenden Mittelpunkt der Intereſſen bildete, bediente
es ſich mancher von der Wiſſenſchaft entwickelter Sätze. Ja jetzt
geſchah es, daß das religiöſe Leben in tief von ihm bewegten
Naturen, wie Xenophanes, Heraklit, Parmenides waren, an dem
metaphyſiſchen Denken eine neue Sprache fand. Es überlebte
aber auch dieſe Art ſeines Ausdrucks. Denn auch die Meta-
phyſik iſt vergänglich, und die Selbſtbeſinnung, welche die Me-
taphyſik auflöſt, findet in ihrer Tiefe abermals — das religiöſe
Erlebniß.

So zeigt das empiriſche Verhältniß von Zuſammenbeſtehen
und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen, die in der Geſchichte
der Intelligenz verwebt ſind: das religiöſe Leben iſt ein
Thatbeſtand, welcher gleicherweiſe mit dem mythiſchen
Vorſtellen
wie mit der Metaphyſik und mit der Selbſt-
beſinnung verbunden
iſt. Daſſelbe muß, wie eng auch die
Art ſeiner Verbindung mit dieſen letzteren Erſcheinungen ſein mag,

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[169/0192] Unterſcheidung der Religion vom mythiſchen Vorſtellen. Indem wir dieſe Grenzen des hiſtoriſchen Erkennens ein- halten, iſt uns innerhalb ihrer zunächſt durch das Verhältniß von Nebeneinanderbeſtehen und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen des geiſtigen Lebens eine Unterſcheidung von Mythos und Religion gegeben. Der Mangel derſelben iſt der erſte Grund der Fehlerhaftigkeit des Comte’ſchen Geſetzes. Das religiöſe Erlebniß ſteht zu dem Mythos und der Theologie, der Metaphyſik und der Selbſtbeſinnung in einem viel verwickelteren Verhältniß, als Comte angenommen hat. Hievon überzeugt uns die Betrachtung des gegen- wärtigen geiſtigen Zuſtandes; mußte doch Comte an ſeinem eignen Syſtem im 19. Jahrhundert die Erfahrung machen, daß daſſelbe über die zweite Stufe der Metaphyſik in den Geiſteswiſſenſchaften nicht hinauskam, ſchließlich aber durch eine Art von wiſſenſchaft- lichem Atavismus auf die erſte, die theologiſche Stufe zurückſank. Deutlicher noch ſpricht die Geſchichte gegen Comte. Der Zeitraum der Alleinherrſchaft mythiſchen Vorſtellens ging bei den griechiſchen Stämmen vorüber; aber das religiöſe Leben blieb und fuhr fort wirkſam zu ſein. Die Wiſſenſchaft erwachte langſam; das my- thiſche Vorſtellen beſtand neben ihr fort, und, wo das religiöſe Leben den herrſchenden Mittelpunkt der Intereſſen bildete, bediente es ſich mancher von der Wiſſenſchaft entwickelter Sätze. Ja jetzt geſchah es, daß das religiöſe Leben in tief von ihm bewegten Naturen, wie Xenophanes, Heraklit, Parmenides waren, an dem metaphyſiſchen Denken eine neue Sprache fand. Es überlebte aber auch dieſe Art ſeines Ausdrucks. Denn auch die Meta- phyſik iſt vergänglich, und die Selbſtbeſinnung, welche die Me- taphyſik auflöſt, findet in ihrer Tiefe abermals — das religiöſe Erlebniß. So zeigt das empiriſche Verhältniß von Zuſammenbeſtehen und Aufeinanderfolge der großen Thatſachen, die in der Geſchichte der Intelligenz verwebt ſind: das religiöſe Leben iſt ein Thatbeſtand, welcher gleicherweiſe mit dem mythiſchen Vorſtellen wie mit der Metaphyſik und mit der Selbſt- beſinnung verbunden iſt. Daſſelbe muß, wie eng auch die Art ſeiner Verbindung mit dieſen letzteren Erſcheinungen ſein mag,

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/192>, abgerufen am 22.11.2024.