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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Vorrede.
Unterwürfigkeitsverhältniß zur Folge, das nicht weniger drückend war
als das alte. Erst die historische Schule -- dies Wort in einem um-
fassenderen Sinne genommen -- vollbrachte die Emanzipation des
geschichtlichen Bewußtseins und der geschichtlichen Wissenschaft. In
derselben Zeit da in Frankreich das im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert entwickelte System der gesellschaftlichen Ideen als Na-
turrecht, natürliche Religion, abstrakte Staatslehre und abstrakte po-
litische Oekonomie in der Revolution seine praktischen Schlüsse zog,
da die Armeen dieser Revolution das alte, sonderbar verbaute und
vom Hauch tausendjähriger Geschichte umwitterte Gebäude des
deutschen Reiches besetzten und zerstörten, hatte sich in unserem
Vaterlande eine Anschauung von geschichtlichem Wachsthum, als
dem Vorgang in dem alle geistigen Thatsachen entstehen, ausge-
bildet, welche die Unwahrheit jenes ganzen Systems gesellschaft-
licher Ideen erwies. Sie reichte von Winkelmann und Herder
durch die romantische Schule bis auf Niebuhr, Jakob Grimm,
Savigny und Böckh. Sie wurde durch den Rückschlag gegen die
Revolution verstärkt. Sie verbreitete sich in England durch Burke,
in Frankreich durch Guizot und Tocqueville. Sie traf in den
Kämpfen der europäischen Gesellschaft, mochten sie Recht, Staat
oder Religion angehen, überall mit den Ideen des achtzehnten
Jahrhunderts feindlich zusammen. Eine rein empirische Betrach-
tungsweise lebte in dieser Schule, liebevolle Vertiefung in die
Besonderheit des geschichtlichen Vorgangs, ein universaler Geist
der Geschichtsbetrachtung, welcher den Werth des einzelnen That-
bestandes allein aus dem Zusammenhang der Entwicklung be-
stimmen will, und ein geschichtlicher Geist der Gesellschaftslehre,
welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im
Studium der Vergangenheit sucht und dem schließlich geistiges
Leben an jedem Punkte geschichtliches ist. Von ihr ist ein Strom
neuer Ideen durch unzählige Kanäle allen Einzelwissenschaften zu-
geflossen.

Aber die historische Schule hat bis heute die inneren Schranken

Vorrede.
Unterwürfigkeitsverhältniß zur Folge, das nicht weniger drückend war
als das alte. Erſt die hiſtoriſche Schule — dies Wort in einem um-
faſſenderen Sinne genommen — vollbrachte die Emanzipation des
geſchichtlichen Bewußtſeins und der geſchichtlichen Wiſſenſchaft. In
derſelben Zeit da in Frankreich das im ſiebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert entwickelte Syſtem der geſellſchaftlichen Ideen als Na-
turrecht, natürliche Religion, abſtrakte Staatslehre und abſtrakte po-
litiſche Oekonomie in der Revolution ſeine praktiſchen Schlüſſe zog,
da die Armeen dieſer Revolution das alte, ſonderbar verbaute und
vom Hauch tauſendjähriger Geſchichte umwitterte Gebäude des
deutſchen Reiches beſetzten und zerſtörten, hatte ſich in unſerem
Vaterlande eine Anſchauung von geſchichtlichem Wachsthum, als
dem Vorgang in dem alle geiſtigen Thatſachen entſtehen, ausge-
bildet, welche die Unwahrheit jenes ganzen Syſtems geſellſchaft-
licher Ideen erwies. Sie reichte von Winkelmann und Herder
durch die romantiſche Schule bis auf Niebuhr, Jakob Grimm,
Savigny und Böckh. Sie wurde durch den Rückſchlag gegen die
Revolution verſtärkt. Sie verbreitete ſich in England durch Burke,
in Frankreich durch Guizot und Tocqueville. Sie traf in den
Kämpfen der europäiſchen Geſellſchaft, mochten ſie Recht, Staat
oder Religion angehen, überall mit den Ideen des achtzehnten
Jahrhunderts feindlich zuſammen. Eine rein empiriſche Betrach-
tungsweiſe lebte in dieſer Schule, liebevolle Vertiefung in die
Beſonderheit des geſchichtlichen Vorgangs, ein univerſaler Geiſt
der Geſchichtsbetrachtung, welcher den Werth des einzelnen That-
beſtandes allein aus dem Zuſammenhang der Entwicklung be-
ſtimmen will, und ein geſchichtlicher Geiſt der Geſellſchaftslehre,
welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im
Studium der Vergangenheit ſucht und dem ſchließlich geiſtiges
Leben an jedem Punkte geſchichtliches iſt. Von ihr iſt ein Strom
neuer Ideen durch unzählige Kanäle allen Einzelwiſſenſchaften zu-
gefloſſen.

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[XIV/0017] Vorrede. Unterwürfigkeitsverhältniß zur Folge, das nicht weniger drückend war als das alte. Erſt die hiſtoriſche Schule — dies Wort in einem um- faſſenderen Sinne genommen — vollbrachte die Emanzipation des geſchichtlichen Bewußtſeins und der geſchichtlichen Wiſſenſchaft. In derſelben Zeit da in Frankreich das im ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhundert entwickelte Syſtem der geſellſchaftlichen Ideen als Na- turrecht, natürliche Religion, abſtrakte Staatslehre und abſtrakte po- litiſche Oekonomie in der Revolution ſeine praktiſchen Schlüſſe zog, da die Armeen dieſer Revolution das alte, ſonderbar verbaute und vom Hauch tauſendjähriger Geſchichte umwitterte Gebäude des deutſchen Reiches beſetzten und zerſtörten, hatte ſich in unſerem Vaterlande eine Anſchauung von geſchichtlichem Wachsthum, als dem Vorgang in dem alle geiſtigen Thatſachen entſtehen, ausge- bildet, welche die Unwahrheit jenes ganzen Syſtems geſellſchaft- licher Ideen erwies. Sie reichte von Winkelmann und Herder durch die romantiſche Schule bis auf Niebuhr, Jakob Grimm, Savigny und Böckh. Sie wurde durch den Rückſchlag gegen die Revolution verſtärkt. Sie verbreitete ſich in England durch Burke, in Frankreich durch Guizot und Tocqueville. Sie traf in den Kämpfen der europäiſchen Geſellſchaft, mochten ſie Recht, Staat oder Religion angehen, überall mit den Ideen des achtzehnten Jahrhunderts feindlich zuſammen. Eine rein empiriſche Betrach- tungsweiſe lebte in dieſer Schule, liebevolle Vertiefung in die Beſonderheit des geſchichtlichen Vorgangs, ein univerſaler Geiſt der Geſchichtsbetrachtung, welcher den Werth des einzelnen That- beſtandes allein aus dem Zuſammenhang der Entwicklung be- ſtimmen will, und ein geſchichtlicher Geiſt der Geſellſchaftslehre, welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im Studium der Vergangenheit ſucht und dem ſchließlich geiſtiges Leben an jedem Punkte geſchichtliches iſt. Von ihr iſt ein Strom neuer Ideen durch unzählige Kanäle allen Einzelwiſſenſchaften zu- gefloſſen. Aber die hiſtoriſche Schule hat bis heute die inneren Schranken

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/17>, abgerufen am 26.04.2024.